Wiedergaenger
dem Land zu
stehlen. Als ihr Handy zum ersten Mal klingelt, befindet sie sich
bereits in Kastrup beim Check-In. Mit klopfendem Herzen schaut sie
aufs Display. Es
ist nicht die Polizei, sondern ein Anruf aus ReykjavÃk.
Ragnar, der Elfenbeauftragte, hat offenbar Neuigkeiten für sie.
»Hey, wo steckst du gerade?«, fragt er, als seien sie
die besten Freunde.
»Auf dem Weg zu euch.«
»Das ist gut, denn mein Großvater hat auf einer deiner
Zeichnungen Inga wiedererkannt. Er hat sie damals auf der Esja
gesehen – und sich gleich in sie verknallt. Verrückt,
oder?«
»Ja, verrückt. Weiß er, was aus ihr geworden
ist?«
»Das nicht,aber er hat sich an den Namen erinnert, unter dem
sie eingereist ist. So ein ungewöhnlicher Name, den hat er nie
mehr vergessen können.«
»Wie lautet er?«, fragt Liv, obwohl sie sicher ist,
die Antwort zu kennen. Sie täuscht sich nicht.
»Fritzi Hartmann«, sagt Ragnar triumphierend, und der
Kreis beginnt sich zu schließen.
Ankunft in KeflavÃk an einem sonnigen Vormittag. Entlang
der Rollbahn ein Meer von Lupinen. Beim Anblick der lavendelfarbenen
Blüten wird Liv für einen Moment von der Trauer um ihren
Großvater übermannt, und sie verlässt ihren
Fensterplatz im Flugzeug erst, nachdem die Flugbegleiterin sie
mehrfach dazu aufgefordert hat.
Fritzi Hartmann lebt in Südisland, nicht weit von der
Hauptstadt entfernt, in einer Gemeinde namens KrýsuvÃk.
Inzwischen wieder einigermaßen gefasst, mietet Liv in KeflavÃk
einen Wagen und fährt direkt dorthin. Laut Ragnar heißt
der Hof Bjarg und liegt an der Küste. Ursprünglich wollte
sie zuerst in die Hallgrimskirche, um Rúnar zur Rede zu
stellen, aber da sie fürchtet, er würde alles tun, um ihren
Besuch bei Fritzi Hartmann alias Inga Engel zu verhindern, hat sie es
sich anders überlegt. Diesmal ist sie überzeugt, die
richtige Deutsche gefunden zu haben: Tönges' Schwester. Warum
der Enkel der alten Frau so vehement gegen die Begegnung ist, kann
sie nur ahnen, noch fehlen die letzten Bestandteile des Puzzles, aber
sie weiß, bald wird sie Gewissheit haben.
Die Strecke ist keine Herausforderung. Vom Flughafen aus dürfte
Liv keine Stunde unterwegs sein. Unfassbar, dass Rúnar sie bis
in die Westfjorde hat fahren lassen.Aus Erbitterung schlägt sie
mit der linken Faust so lange gegen die Fensterscheibe, bis sich im
Glas ein feiner Riss abzeichnet.
Schneller, als ihr lieb ist, bevor sie sich überlegen kann,
wie sie mit der Alten ins Gespräch kommen soll, erreicht Liv ihr
Ziel. Ein blaues Haus am Rand eines scharfkantigen Lavafeldes,
dahinter das Meer, sattgrüne Wiesen, vermooste Berge, so sieht
Ingas selbst gewählte Verbannung aus.An einem Fahnenmast
flattert eine zerfetzte isländische Fahne im Wind: rot, weiß,
blau. Warum nur hat diese Frau einst alle Brücken hinter sich
abgebrochen?
Liv würde am liebsten noch eine Weile reglos sitzen bleiben,
aber sie zwingt sich auszusteigen und ihre wachsende Nervosität
zu ignorieren. Das helle Licht im Freien lässt sie blinzeln,
ganz in der Nähe klatschen Wellen an einen Strand, der von hier
aus nicht zu sehen ist. Das Geräusch beruhigt sie ein wenig.
Hoch über dem Wasser schweben Vögel durch die Luft. Neben
ihr im Gras ist eine Möwe gelandet, die sie ohne ersichtlichen
Grund aufscheucht. »Mistvieh, hau ab.«
Ein leichter Schwefelgeruch durchsiebt die Meeresbrise.
Erst jetzt bemerkt sie Rúnars Jeep, der neben einem
Schuppen parkt.
»Verdammt.«
Schon geht die Haustür auf, und er stapft auf sie zu. Liv
bekommt sofort weiche Knie und hat trotz ihrer Wut auf ihn
idiotischerweise das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen. Um
sich keine Blöße zu geben, will sie grußlos an ihm
vorbei. Er schneidet ihr den Weg ab.
»Was willst du hier?«
»Fritzi Hartmann besuchen.«
»Die lebt nicht mehr hier.«
»Da habe ich aber etwas anderes gehört.«
Er hält sie am Handgelenk fest. »Ich muss es ja wohl
wissen.«
»Lass mich los.«
Keine Reaktion. Rúnar hat Liv in der Gewalt, zieht sie
wortlos hinter sich her, die Auffahrt hinauf, über die
Schotterstraße und einen steil ansteigenden Trampelpfad entlang
in die Berge. Sein Atem geht keuchend. Livs Versuche, sich mit
Tritten und Bissen zu befreien, haben etwas Lächerliches und
bringen ihn nur dazu, ihr Handgelenk noch fester zu
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