Wiedergaenger
zieht seine
Drumsticks aus der Gesäßtasche und schlendert auf die
Bühne zu, ein Konstrukt aus Euro-Paletten, mit speckigen
Teppichen belegt und einem neunarmigen Stand-Kerzenleuchter als
Dekoration.
»Es wird kein nächstes Mal geben«, murmelt Liv
und folgt ihm. Vielleicht sollte sie wenigstens die Kerzen ausblasen.
Anfangs hat sie Schlagzeug gespielt und Volker hat gesungen. Liv
wollte es so, sie hoffte, sich auf diese Weise abreagieren zu können
– vom Leben, von der Arbeit –, was vorübergehend
sogar funktioniert hat. Leider ist sie keine überzeugende
Schlagzeugerin und Volker allenfalls ein mäßiger Sänger,
und das blieb den anderen Sprengberechtigten nicht verborgen, weshalb
sie auf deren Drängen die Rollen tauschten.
Als Liv zu singen beginnt, passiert etwas in den Reihen der
Zuschauer: ein Raunen, wie bei einem Feuerwerk, die Aufmerksamkeit
fliegt ihr zu.Auch Henk, der Holländer, der mit seinem Keyboard
zum ersten Mal bei einem Auftritt mitwirkt und sie während der
Proben nur schwer erkältet als Sängerin erlebt hat, hebt
überrascht den Kopf und lächelt ihr zu. Ihm zuliebe hält
sie den Ton über den Akkordwechsel hinaus einen Takt länger
als sonst, vergessen sein Missgeschick. Er ist ein netter Kerl, wie
alle Kollegen.Applaus. Liv kennt und genießt die Ergriffenheit,
die ihr heller, beinahe knabenhafter Gesang auslöst. Im echten
Leben braucht sie länger, um Sympathien zu wecken. Es erstaunt
sie selbst immer wieder, dass ihre Stimme in den Jahren der Rebellion
gegen ihre Eltern nicht die Unschuld verloren hat. Jahre, in denen
sie ständig fortlief, die Schule schwänzte, in schlechte
Gesellschaft kam, kreuz und quer durch Europa bis nach Lissabon
trampte und viel zu viel rauchte und trank. Wenn im Kreise der
Familie Engel jemals so etwas wie Harmonie aufkam, dann Weihnachten,
solange sie, von ihrem Großvater am Klavier begleitet, »Stille
Nacht« sang. Drei Strophen Frieden. Sie hat sich nie
geziert.Von einer feierlichen Ãœberheblichkeit beseelt, gab sie
sich der Illusion hin, wenigstens vorübergehend alles unter
Kontrolle zu haben, indem sie die von Feindseligkeiten vergiftete
Luft einsog, zum Schwingen brachte und in etwas Klangvolles
verwandelte. Ganz leicht ging das. Seither verschafft Singen ihr
Gelassenheit und hin und wieder eine Ahnung vom Leben an sich. So
ähnlich wie ein Tag am Meer.
Die Musik schwillt an. Schlagzeug, Bass und E-Gitarre ringen um
Dominanz, ein kontrolliertes Chaos, das Keyboard kreischt im Stil
einer Hammond-Orgel. Liv schließt die Augen.Am Zaun gleich
hinter der Startbahn stehen, Flugzeuge zum Greifen nah, so ungefähr
muss sich das anfühlen.Ausprobiert hat sie es nie. Warum
eigentlich nicht?
Die meisten ihrer Stücke beginnen ruhig, steigern sich,
driften einer Explosion entgegen, zu der es manchmal kommt, manchmal
nicht. Ãœber allem schwebt nahezu unbeteiligt Livs Stimme,
melodiös, schlicht und klar.
Sie stellt sich vor, wie gut sie beim Singen aussieht, viel jünger
als siebenunddreißig, mit den langen Haaren, die im
Scheinwerferlicht rötlich schimmern, und der schlanken Figur,
betont durch schwarze Röhrenjeans, und auf einmal ist sie froh
über so viel Publikum. Vielleicht ist sie doch ein bisschen
eitel.
Liv genießt die Gunst der Stunde, bis eine Erinnerung sie
stört: Beim letzten Konzert ließ ihr Exmann sich blicken,
fand alles krank, die Lieder, die Räumlichkeiten, das Publikum.
Er unterteilt die Welt gern in krank und gesund. Gesunder
Menschenverstand, gesunder Respekt, gesunder Lebenswandel –
seine treusten Gefährten. Liv hingegen macht ihn krank, heute
noch. Deswegen hatte er die Scheidung gewollt.
Sie spielen etwa eine Stunde. Drei Zugaben,Applaus, Feierabend. Zu
Livs Erleichterung leert sich die Fabrik zügig und ohne
Zwischenfälle, es ist kalt geworden, trotz Heizstrahler, die
Leute wollen nach Hause. Sie hat noch ein Bier aufgetrieben und
albert mit den Kollegen herum, bis Volker sich verabschiedet, weil er
seine Frau daheim nicht länger warten lassen will, worauf es
plötzlich alle außer Liv eilig haben. Ein schönes
Konzert. Sie wünschte, Tönges wäre dabei gewesen.
Jemand lehnt an ihrem Auto. Eine schlaksige Gestalt, mehr ist in
der klammen Dunkelheit nicht zu erkennen. Ein Jugendlicher
höchstwahrscheinlich, die Haltung lässt es vermuten,
schlaff und angespannt zugleich. Bevor Liv
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