Wiedersehen mit Mrs. Oliver
zu der kleinen Gartenlaube zu schleichen, in der sie ihren Rucksack und ihr Wanderkostüm verborgen hatte. Dann eilte sie durch den Wald zum Bootshaus, bat Marlene, sie hineinzulassen, und erwürgte das ahnungslose Geschöpf auf der Stelle. Sie warf den breitkrempigen Kulihut in den Fluss, schminkte sich ab, zog ihr Wanderkleid an, packte das violette Georgettekleid und die Schuhe mit den hohen Absätzen in den Rucksack, und bald darauf traf die italienische Studentin ihre holländische Freundin auf der Festwiese und verließ Nassecombe mit ihr im Autobus – wie geplant. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht, aber ich nehme an, in Soho, wo sie zweifellos in der Unterwelt Bekannte ihrer eigenen Nationalität hat, die ihr die notwendigen Papiere verschaffen können. Auf jeden Fall sucht die Polizei nicht nach einem italienischen Mädchen, sondern nach der schönen, exotischen und einfältigen Lady Stubbs.
Jedoch, wie Sie selbst nur zu gut wissen, Madame, ist die arme Hattie Stubbs tot. Das haben Sie mir, als ich mich am Tag des Gartenfestes im Wohnzimmer mit Ihnen unterhielt, ohne es zu wissen verraten. Marlenes Tod war für Sie ein großer Schock. Sie hatten keine Ahnung, was geplant war, aber aus dem, was Sie sagten, ging deutlich hervor, dass sich Ihre Bemerkungen über Hattie auf zwei verschiedene Personen bezogen, obgleich ich das damals dummerweise nicht sofort durchschaute. Sie sprachen von einer Frau, die Sie nicht mochten, die ›besser tot wäre‹; Sie warnten mich, dieser Person auch nur ein Wort zu glauben. Von dem anderen Mädchen sprachen Sie, als gehörte es der Vergangenheit an, und sie verteidigten es mit warmer Zuneigung. Ich glaube, Sie hatten die arme Hattie Stubbs wirklich gern, Madame …«
Es entstand eine lange Pause.
Mrs Folliat saß wie versteinert auf ihrem Stuhl. Schließlich nahm sie sich zusammen und begann zu sprechen. Ihre Stimme war eiskalt.
»Diese ganze Geschichte ist einfach phantastisch, M. Poirot. Sie müssen wahnsinnig sein … Sie haben das Ganze frei erfunden … Sie haben nicht einen Beweis in Händen.«
Poirot ging zum Fenster hinüber und öffnete es.
»Hören Sie das, Madame …?«
»Ich bin etwas schwerhörig … was sollte ich hören?«
»Hackenschläge … das Geräusch eines Brechhammers … sie brechen den Betonfußboden des Folly auf … Ein sehr geeigneter Platz, um eine Leiche zu verbergen, ein Platz, an dem die Erde durch einen entwurzelten Baum bereits aufgelockert war. Und etwas später wurde der Grund, unter dem die Leiche lag, mit einer Betondecke überzogen, und man errichtete ein Lusthäuschen – das Folly …«
Mrs Folliat seufzte lange und tief.
»So eine herrliche Besitzung«, sagte Poirot, »bis auf den einen Schandfleck – bis auf den Eigentümer, der ein von Grund auf verdorbener, schlechter Mensch ist.«
»Ich weiß«, stieß sie heiser hervor. »Ich habe es immer gewusst … selbst als Kind habe ich ihn gefürchtet … er war von klein auf rücksichtslos, mitleidslos, gewissenlos. Aber er war mein Sohn, und ich liebte ihn … Nach Hatties Tod hätte ich ein Geständnis ablegen müssen … aber er ist mein Sohn! Wie könnte ich ihn anzeigen? Und durch mein Schweigen ist das arme, dumme Kind ums Leben gekommen … und danach der brave, alte Merdell … Wo hätte es geendet?«
»Wenn es sich um einen Mörder handelt, kann man das Ende nicht absehen.«
Sie senkte den Kopf und bedeckte ihre Augen mit den Händen. So blieb sie einen Augenblick sitzen.
Dann setzte sich Mrs Folliat von Nasse House, Abkömmling einer alten, tapferen Familie, kerzengerade auf, sah Poirot in die Augen und sagte kühl und gefasst:
»Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind und mir das alles persönlich mitgeteilt haben. Würden Sie jetzt bitte gehen? Es gibt Dinge, mit denen man ganz allein fertig werden muss …«
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