Wiener Schweigen
heruntergekurbelten Fenstern ihrer Wägen hängen. Manche trommelten dabei von außen nervös gegen die Tür.
Wien ist eine windige Stadt, dadurch ist es nie besonders heiß. Die windstillen Tage Mitte Juni waren eine Seltenheit und führten dazu, dass die Luft in den schmalen Gassen und engen Straßen stand. Selbst unter den weit ausladenden Kronen der Bäume im botanischen Garten, den Rosa nun betrat, hing sie schon am Vormittag wie ein dichter Vorhang.
Rosa ließ ihren Blick über den niedrigen Hügel des Alpinums rechter Hand hinter dem Eingang gleiten. Sanft plätscherte ein kleiner künstlicher Bach die dicken Moospölster entlang. Die zahlreichen Namensschilder vor den Pflanzen kamen ihr wie winzige Grabsteine vor. Sie schlenderte weiter zur Kakteengruppe, die links vom Hauptweg angelegt worden war. Wie mahnende Finger erhoben sich die stacheligen Pflanzen in den Himmel. Neben einem schmalen Kiesweg, der sich durch den Garten schlängelte, stand eine Schwarzpappel, über deren dickem, mit riesigen Knoten versehenem hartrindigem Stamm sich eine gewaltige Krone erhob.
Rosa verharrte kurz unter dem Baum und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Warum hatte Andrzej Zieliński das Bild der Ikone so oft in sein Notizbuch gezeichnet? Hatte er es jemals in natura gesehen? Der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie bis zum Mammutblatt an der Südseite des Gartens weiterschlenderte und die Blätter bestaunte, die, wie sie einer Hinweistafel entnahm, bis zu zwei Meter Durchmesser erreichen konnten. Rosa blieb ein Stück weiter bei den Grabsteinen von Jacquin Vater und Sohn stehen, die inmitten von Farnen in einem kleinen Nadelholzwäldchen standen.
Sie dachte an das Gespräch mit Radoslav Beljajew und ahnte jetzt, warum ihr der Zugang zur Ikonenmalerei immer schwergefallen war. Man konnte eine Ikone nicht isoliert als Kunstwerk betrachten, sondern musste auch den religiösen Aspekt bedenken. Da Rosa nicht gläubig war und es zahlreiche andere, für sie interessantere Bereiche der Kunstgeschichte gab, hatte sie die Ikonenmalerei immer sträflich vernachlässigt. Sie ließ ihren Blick zur roten Ziegelmauer gleiten, hinter der sich grün die Kuppeln des Belvederes erhoben.
Als ratternd ein Rasenmäher anlief, schreckte Rosa hoch. Sie sah auf ihre Armbanduhr und eilte zum Ausgang, da ihr nur noch ein paar Minuten bis zum Treffen mit Liebhart und Schurrauer blieben. Beim Haustor Jacquingasse 33 traf sie gleichzeitig mit ihnen ein.
Die beiden hatten dieselbe Kleidung wie am Tag zuvor an und sahen vollkommen übermüdet aus. Nach einer kurzen Begrüßung drückte Liebhart Rosa den Katalog von Friedrich Kobalds Kunstsammlung in die Hand.
Die Wohnung lag in einem Gründerzeithaus. Rosa schätzte, dass es um 1900 erbaut worden war. Über dem repräsentativen Eingangstor war ein Glas-Eisen-Vordach angebracht. Hohe Kassettenfenster gewährten den Mietern einen weitläufigen Ausblick auf den botanischen Garten. Die Wohnungen im ersten und zweiten Stock verfügten über einen Mittelerker, der schlank in die klassizistische Fassade eingelassen worden war. Die meisten Palais in dieser Gegend waren im Zweiten Weltkrieg zerstört und durch gesichtslose Neubauten ersetzt worden. Rosa wusste, dass Wohnungen um das Belvedere Unsummen kosteten.
Sie betraten das dunkle, angenehm kühle Entree. Ein auf alt gemachter, billiger Luster in Form einer Laterne hing von der Stuckdecke herab. Zwei der fünf Glühbirnen waren ausgefallen, und so war der Eingangsbereich in unangenehmes Zwielicht getaucht. Sie stiegen eine Treppe mit schwarzem Geländer, das aus gusseisernen Blumenornamenten bestand, hinauf. Durch eine kleine Tür, die mit einem Keil offen gehalten wurde und über die ein gipserner Puttenkopf wachte, führten Marmorstufen zu den Wohnungen hinauf.
Liebhart klingelte an der Wohnungstür von Friedrich Kobald, und ein Kollege von der Spurensicherung öffnete. Gleichzeitig wurde die Tür gegenüber mit einem Ruck aufgerissen. Ein »Stiegenhausdrachen«, in Wien eine weit verbreitete Spezies, trat im Hauskleid auf den Gang und musterte die drei böse. Im Vorzimmer der Wohnung konnte Rosa einen Staubsauger sehen.
»Wer sind Sie und was wollen Sie hier?«, keifte die Frau, deren schlecht gefärbtes kupferfarbenes Haar am Ansatz schon grau nachwuchs.
Liebhart seufzte laut und drehte sich mit zum Himmel gewandten Augen um. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Rosa kannte Liebhart sehr gut und hörte unterschwellig Wut in
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