Wiener Schweigen
diesen Effekt.
»Wie das wohl den Weg nach Wien gefunden hat?«, überlegte sie laut und ließ ihren Blick zu zwei Vita-Ikonen weiterwandern. Auf der einen war der heilige Georg zu erkennen, der auf einem Pferd sitzend den Drachen tötete. Auf kleinen, abgegrenzten Randbildern, die das zentrale Bild einrahmten, war sein Leben dargestellt. Bei der zweiten Ikone musste Rosa passen, sie konnte den abgebildeten Heiligen nicht zuordnen. Dem Katalog zufolge handelte es sich um den heiligen Phanourios, einen auf Kreta und Rhodos verehrten Märtyrer. Die Ikone war griechischen Ursprungs und aus dem 17. Jahrhundert. Rosa schluckte, als sie die veranschlagte Versicherungssumme las: hundertzwanzigtausend Euro.
Nach einer halben Stunde ließ sie frustriert den Block sinken. Sie hatte immer deutlicher das Gefühl, Liebhart bei diesem Fall nicht helfen zu können. Ihre gewohnte Sicherheit ließ sie bei Ikonen im Stich. Weder schaffte sie es, alle zwölf Ikonen durchgängig zu klassifizieren, noch konnte sie deren Verkaufswert richtig einschätzen. Sie ärgerte sich, dass sie nicht besser vorbereitet war.
»Das kann ja lustig werden«, murrte sie, als sie an ihre zukünftige Rolle bei den Ermittlungen dachte.
Die vielen Menschen in der Wohnung ließen die Temperatur auf ein fast unerträgliches Maß steigen, doch wegen des Fingerabdruckpuders durfte die Klimaanlage nicht eingeschaltet werden.
Rosa fühlte sich noch immer von der Fülle an Kunstgegenständen überfordert. Sie konnte keine Hinweise erkennen, wie der Mord an Friedrich Kobald und der Tod des jungen Polen zusammenhingen, und beschloss, in Liebharts Büro zu fahren. Als sie in ihrem Wagen saß, lastete ihre schlechte Laune schwer auf ihr.
Bevor du zusammengeschlagen worden bist, konnte dich nichts so leicht umhauen, dachte sie dumpf.
Frau Grand, Liebharts Sekretärin, verachtete Rosa, so wie auch alle anderen Frauen, die mit ihrem Vorgesetzten zu tun hatten. Sie trug heute das freudloseste Sommerkleid, das Rosa jemals gesehen hatte. Schlammfarbene Hyazinthen ertranken in gedecktem Dunkelbraun.
Frau Grand sah nur kurz von ihrer Tastatur auf und brummte »Sie sind’s« in Richtung Rosa.
»Und Sie sind es offensichtlich auch«, kommentierte diese die herzliche Begrüßung und ging weiter in Liebharts Büro, wo die Ermittler mit besorgter Miene um den großen Besprechungstisch standen.
Liebhart schenkte Mineralwasser ein. »Hat dir ein Blick auf die Sammlung geholfen?« Er sah müde aus, die Ermittlungen im Fall der Autodiebe schienen ihm einiges abzuverlangen.
»Ich hab mir viele Notizen gemacht und mir den Katalog angesehen.« Rosa wollte Liebhart nicht enttäuschen und hoffte, dass er nicht draufkam, dass sie ziemlich im Trüben fischte. »Ich verstehe allerdings nicht, wieso der Dieb es gerade auf die Monstranz mit dem geringsten Wert abgesehen hatte. Er hätte viel kostbarere Kunstwerke mitnehmen können«, sagte sie mehr zu sich selbst.
»Das spricht, wie gesagt, für die Annahme, dass es sich um einen Auftragsdiebstahl gehandelt hat«, meinte Liebhart. »Gut, kommen wir erst einmal zum Stand der Dinge im Kuchelauer Hafen. Bis jetzt hat man die Knochen von ungefähr dreißig Leichen gefunden.«
»Wieso nur ungefähr?«, fragte Rosa.
»Die Anthropologen müssen die Knochen erst zusammensetzen. Sie können zwar schon mit Gewissheit sagen, dass die Toten im Hang begraben worden sind, doch durch die Rutschfahrt in den Hafen sind viele Skelette nicht mehr in einem Stück.« Liebhart kratzte sich an der Wange. »Das wird dauern, und dann beginnt erst die eigentliche Arbeit, nämlich die Identifizierung dieser dreißig Menschen.«
»Weiß man schon, wo man die vergraben hatte?«
»Die Taucher haben Unterwasserfotos gemacht, um die Lage der Skelette am Computer in eine Art Matrix einzutragen. Dann werden die Koordinaten des Hanges, so wie er vor dem Murenabgang ausgesehen hat, eingegeben. Der Computer errechnet, wie viel Material abgegangen ist und wohin es geschwemmt wurde. Diese Daten werden dann mit der Lage der Knochen im Hafenbecken verglichen, und so können wir ihre ursprüngliche Position herausfinden.«
»Das klingt, als würde es sehr lange dauern«, sagte Rosa.
Schurrauer zuckte resigniert mit den Schultern. »Wir verfügen leider noch nicht über die neueste Technik, mit der es bei Weitem schneller gehen würde. Es sind schon raffiniertere Kameras auf dem Markt, die auf Infrarotstrahlung oder Wärme ansprechen und hochauflösende Digitalfotos
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