Wiener Schweigen
langsam fahrenden Autos blockierten die Zufahrtsstraße. Polizisten vergeudeten ihre Zeit mit der Befragung von Menschen, die nichts wussten, aber unglaublich viel zu berichten hatten.
Rosa entdeckte Liebhart, der in einer Gruppe von Männern stand und über das Wasser zu einer schmalen Landzunge deutete, die den Hafen von der Donau trennte. Als er Rosa sah, eilte er auf sie zu. Umständlich klemmte er sich eine Mappe mit Unterlagen, die er bei sich trug, unter die Achsel und hielt ihr das Absperrband hoch.
Rosa begrüßte ihn abwesend, ihr Blick wanderte über weiße Leichensäcke, die in drei Reihen am Ufer lagen. »Sind diese Menschen alle von den Erdmassen erdrückt worden?«
Liebhart schüttelte den Kopf: »Nein, es ist weitaus komplizierter. Wir vermuten ein anonymes Massengrab im Hang. Bis jetzt wurden achtzehn Skelette geborgen, die Taucher sagen, im Hafen liegen sicher noch einmal über zwanzig.«
»Wir können froh sein, dass der Hang in den Hafen abgegangen ist.« Rosa drehte sich um und sah in das Gesicht Schurrauers, eines Kollegen Liebharts. »Ein Stück weiter östlich, und die Knochen wären in der Donau gelandet, und dann hätte sie die Strömung weggeschwemmt. Die Anthropologen müssen feststellen, wie alt die Skelette sind.«
»Keine schöne Arbeit«, meinte sie und schlang die Arme um den Körper, weil sie zu frösteln begann. Schweigend starrte sie ein paar Sekunden auf die Toten am Ufer, bevor sie von Liebhart wissen wollte: »Aber was hat das alles mit dir als Chefinspektor des Morddezernats zu tun? Sind diese Menschen ermordet worden? Und was mich noch brennender interessiert: Was hat das mit mir zu tun? Sind Kunstgegenstände im Spiel?«
Liebhart sah zu den Schaulustigen, die sich hinter dem Absperrband drängten. Er zog Rosa zu einem Holztisch mit zwei Bänken, die, abgeschieden vom Trubel, nahe dem Wasser standen und von den Erdmassen verschont geblieben waren. Als sie sich setzte, dachte Rosa an die unzähligen Wanderer, die hier schon ihre Jause eingenommen und währenddessen den Blick auf das ruhige Wasser im Hafen genossen hatten. Das Bild stand im krassen Gegensatz zu dem Anblick, der sich ihr jetzt bot: Leichensäcke, ein Bergungsboot und kleine Motorboote auf dem Wasser. Und zahllose Menschen, die hektisch umherliefen.
Schurrauer blieb mit den Händen in den Hosentaschen stehen, Liebhart nahm neben Rosa Platz. Er öffnete eine Mappe und breitete großformatige Fotos vor ihr auf dem Tisch aus. »Gestern bin ich zu einem Tatort in Wien, in den 3. Bezirk, gerufen worden: Friedrich Kobald, ein berühmter Sammler sakraler Gegenstände.«
Rosa unterbrach Liebhart. »Oh Gott. Ich bin Kobald ein-, zweimal begegnet. War ein unscheinbarer, eher schüchterner Mann. Soviel ich weiß, hat er Philosophie und Religionswissenschaften an der Uni Wien gelehrt.«
Liebhart schob Rosa das Foto eines Weihwassersprengels hin. »Er wurde damit in seiner Wohnung nahe dem Belvedere erschlagen.«
Sie nahm das Bild in die Hand. »Ein Aspergill, sieht wertvoll aus.«
»Richtig, ist es auch!«
»Ist etwas aus seiner Sammlung entwendet worden?«
»Nur eine Monstranz. Das wissen wir, weil Kobald einen umfangreichen und detaillierten Katalog seiner Wertgegenstände bei seiner Versicherung deponiert hatte. Mit Fotos und allem Drum und Dran.«
»Gibt es schon Verdächtige?«
»Wir haben zahlreiche Fingerabdrücke auf der Tatwaffe gefunden. Sie passen zu der Leiche eines jungen Mannes, die heute Morgen bei den Taucharbeiten hier im Hafen etwas weiter stromaufwärts entdeckt wurde. An Hand- und Fußgelenk hing ein Seil.«
Rosa biss sich auf die Lippen. »Wisst ihr schon, wer der Tote war?«
»Ja, ein Wanderer hat hier, unweit vom Ufer, vor ein paar Tagen einen Rucksack gefunden und bei der Polizei im Kahlenbergerdorf abgegeben. In der Brieftasche, die sich darin befand, war ein Ausweis, den wir anhand des Fotos der Wasserleiche zuordnen können. Sein Name war Andrzej Zieliński, ein junger Pole. Im Rucksack war auch ein Notizbuch, es ist noch bei der Spurensicherung, danach lassen wir es übersetzen. Dieses Schwarz-Weiß-Foto haben wir zwischen den Seiten gefunden.« Liebhart hielt ihr einen Plastikbeutel hin.
Sie griff danach und betrachtete das Bild ausgiebig. Es war eine alte Aufnahme auf dünnem Karton, circa dreißig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß. Die weiße Umrandung war in leichten Wellenlinien geschnitten, so wie bei Fotografien früher üblich. Eine Frau mit Kopftuch und schlichter
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