Wiener Schweigen
Ihr Enkel hätte ein weitaus leichteres Leben, wenn die Ikone noch in ihrem Besitz wäre.
Sie haben sie uns einfach weggenommen, in dieser furchtbaren Nacht, in der alle gestorben sind, dachte Zofia. Mein Vater hatte sie von seinem Vater geerbt und der wiederum von seinem Vater. Sie haben sie uns einfach genommen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten und begann zu weinen.
4
»Eine Katastrophe für jemanden, der so gerne isst wie ich«, grummelte Rosa, als sie in die Auffahrt ihres Hauses einbog und ihr die eisige Leere in ihrem Kühlschrank einfiel. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Da sie in den letzten Tagen an einem Gutachten für eine antike Steinskulptur gearbeitet hatte, war sie nicht dazu gekommen, ihre Vorräte aufzufüllen, und ihr geplanter Einkauf war durch den Anruf von Liebhart flachgefallen.
Unter der Dusche entschied sie, sich frisches Gemüse aus den Hochbeeten in ihrem Garten zu holen und es mit viel Knoblauch und ein paar Spritzern Olivenöl in der Pfanne anzubraten. Erdäpfel lagerten in ihrem Keller, und ein Glas Riesling würde sicher auch gut dazu passen.
Als sie sich einseifte, dachte sie an das Kahlenbergerdorf, das zu einem Touristenort mit ein paar Heurigen geworden war. Nur der kleine Laden in der Bloschgasse, in dem es im Herbst und im Winter das beste Sauerkraut und das ganze Jahr über in Essig eingelegtes Gemüse gab, hatte überlebt. Sie hatte es sich zur festen Gewohnheit gemacht, dort einzukaufen, wenn sie in der Nähe war, und ärgerte sich, dass sie heute komplett darauf vergessen hatte.
»Kein Wunder, bei dem Rummel, der dort heute los war«, sagte sie entschuldigend zu sich selbst.
Während sie ihre feuchten Haare in ein Handtuch einschlug, wanderten ihre Gedanken zu Friedrich Kobald, einem kleinen Mann mit runden Brillengläsern und schütterem Haar, der sich bei Auktionen immer diskret im Hintergrund gehalten hatte. In der Branche wurde er deswegen »der leise Bieter« genannt. Der Auktionator hatte, nachdem er ein Objekt ausgerufen hatte, mit zusammengekniffenen Augen immer zuerst in Kobalds Richtung geschaut, um sein Gebot auch ja nicht zu übersehen.
Rosa schüttelte den Kopf; schon wieder war der Tod in ihr Leben getreten. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und stieg ins Erdgeschoss hinunter.
Das Licht der untergehenden Sonne färbte das Wohnzimmer orange. Es fiel durch die großen Fenster der Terrasse auf den alten Schieferboden, wanderte über die Zimmerdecke mit ihren freigelegten dunklen Stützbalken zu den weiß gekalkten Wänden und Bücherreihen, die sich in von Rosa selbst gezimmerten Kästen aus Walnussholz bis unter die Decke zogen. In Schürhaken, Schaufel und Besen aus Messing, die vor dem offenen Kamin hingen, spiegelten sich die letzten Sonnenstrahlen. Die Feuerstelle stand frei mitten im Wohnzimmer, sodass man gleichzeitig davorsitzen und links und rechts daran vorbei in den Garten sehen konnte.
Sie trat auf die Terrasse und ließ ihren Blick kurz über das Tal gleiten, bevor sie zu den Gemüsebeeten eilte. Durch den vielen Regen hatten die Zucchini eine beachtliche Größe erreicht, die Paradeiser machten ihr etwas Sorgen, sie hingen noch unreif, jedoch schon zu weich an den Stauden. Trotzdem konnte sie eine kleine Handvoll pflücken; zum Anbraten würden sie reichen. Sie nahm ein wenig vom wilden Knoblauch, der intensiver als der von ihr angepflanzte schmeckte, und schnitt auch noch zwei Rosmarinzweige ab. Die Erbsenschoten waren zart, aber schon prall gefüllt. Rosa öffnete auf dem Rückweg zum Haus eine von ihnen und ließ die kleinen grünen Kugeln in ihren Mund trudeln.
In der Küche stellte sie einen Topf Wasser für die Erdäpfel zu. Während sie das Gemüse mit dem Rosmarinzweig in etwas Olivenöl anbriet, genehmigte sie sich einen Welschriesling vom Weingut Tement. Sie ließ den Wein am Gaumen kreisen, bis sie das feine Aroma von roten Äpfeln und Marillen schmeckte. Über das fertige Gemüse streute sie noch ein paar Pinienkerne, die sie zuvor in einer beschichteten Pfanne angeröstet hatte, und stellte ihren Teller zusammen mit den Unterlagen von Liebhart und einer Lupe auf die Terrasse.
Während sie genussvoll kaute, untersuchte sie die Fotografie nun genauer und hielt inne, als sie in der rechten unteren Ecke einen fast nicht zu erkennenden Schatten sah. Der Zipfel eines fliegenden Zopfes ragte ein wenig ins Bild. Er musste einem Kind gehören, das noch schnell versucht hatte, aus dem Bildausschnitt zu laufen, bevor
Weitere Kostenlose Bücher