Wiener Schweigen
Exponate auf hundertzwanzig Quadratmetern, und die Spurensicherung muss jeden Gegenstand untersuchen. Die sind noch lange nicht fertig. Wir treffen uns morgen in Wien, dann gebe ich dir den Katalog, und du kannst dir alles ansehen. Wir müssen rasch handeln, sonst wird die Spur kalt. Hehler haben gut funktionierende Netzwerke und sind verdammt schnell.«
Rosa wies auf das Marienbild in ihrer Hand. »Wäre es nicht sinnvoller, zuerst mit den Angehörigen von Zieliński zu reden? Die können dir vielleicht eher sagen, ob er Kobald kannte, was es mit der Ikone auf sich hat und wieso sie für ihn so eine große Bedeutung hatte.«
Liebhart wiegte langsam den Kopf. »Das versuchen wir natürlich auch, allerdings … Wer weiß, ob wir die so schnell finden –«
Eine Explosion ließ alle zusammenfahren. Liebhart drückte Rosa unter den Tisch, Schurrauer ging in Deckung und presste schützend die Arme um seinen Kopf. Als wieder Ruhe eingekehrt war und Rosa glaubte, dass keine Gefahr mehr bestand, kroch sie vorsichtig unter dem Tisch hervor. Über dem Kahlenbergerdorf stieg eine Rauchsäule auf; Feuerwehrsirenen waren zu hören. Liebhart sprang auf, griff zu seinem Mobiltelefon und versuchte, mit der Polizei im Dorf Kontakt aufzunehmen, doch die Leitung war besetzt.
»Setz dich in mein Auto, bis wir wissen, was da los ist«, meinte er dann zu Rosa.
Seitdem sie zusammengeschlagen worden war, war Liebhart sehr um sie besorgt. Er gab sich noch immer die Schuld für das, was ihr damals passiert war.
Rosa verdrehte die Augen. »Ich bin hier sowieso überflüssig, wir sehen einander morgen.«
Liebhart nickte ihr kurz zu, während er sich bereits wieder sein Telefon ans Ohr hielt.
Rosa kletterte eine niedrige Böschung hinauf, da der Weg, den sie gekommen war, von einem Bergungsteam blockiert wurde. Oben drehte sie sich um und blickte noch einmal über die Reihe von Plastiksäcken. Die Taucher hatten inzwischen weitere Skelette geborgen, sie wurden mit Hilfe eines Lastenaufzuges aus dem Wasser auf das Bergungsboot gehoben.
Hinter den Absperrbändern klickten Kameras, Rosa konnte ein paar Journalisten anhand ihrer professionellen Fotoausrüstung erkennen. Die ankommenden und abfahrenden Transportwägen für die menschlichen Überreste machten einen Heidenlärm. Autotüren wurden zugeschlagen, Kommandos erteilt, und Rufe schallten über den Hafen. Polizeihunde wurden, auf der Suche um weitere Beweisstücke, das Ufer entlanggeführt. Die feuchte Erde war aufgerissen und hatte sich in braunen Matsch verwandelt.
Rosa ging langsam zu ihrem Auto zurück. Liebhart hatte ihr eine vergrößerte Kopie des Fotos der Ikone und das Bündel Kopien der Seiten aus dem Notizbuch von Andrzej Zieliński mitgegeben. Vom Ende der Bloschgasse stieg noch immer die Rauchsäule auf. Rosa wurde von einem Feuerwehrmann angehalten.
»Mein Auto steht in der Wigandgasse.« Sie wusste im selben Moment, als sie es aussprach, dass das kein überzeugendes Argument war, sie passieren zu lassen.
»Da kann jetzt keiner durch«, schnappte der Mann. »Im Pfarramt hat es eine Explosion gegeben.«
»Ist eine Gasleitung leck, vielleicht durch den Murenabgang?«
»Das wissen wir noch nicht, gengan S’ jetzt weiter!«
Sie ging langsam die Bloschgasse hinunter bis zur Unterführung und blieb dort einen Moment unschlüssig stehen. Die Bergungsarbeiten hatten eine Menge Staub aufgewirbelt, der nun wie eine dichte Decke über dem Kahlenbergerdorf lag und die Sonne nur milchig durchsickern ließ.
Als ein Feuerwehrmann neben ihr eine Aluleiter von einem Einsatzwagen hob und sie krachend aufs Straßenpflaster fallen ließ, schrak Rosa zusammen. Nachdem sie auch noch fast von einer Gruppe Sanitäter umgerannt worden wäre, entschied sie, nicht länger hier zu warten, bis der Weg zu ihrem Wagen freigegeben würde. Sie wandte sich zur Geigeringasse, einem schmalen Steig, der hinauf zur Pfarrkirche St. Georg führte.
Obwohl das Kahlenbergerdorf zum 19. Bezirk gehörte – einer Gegend, in der sich hauptsächlich gut situierte Wiener niederließen – und trotz seiner Heurigen und dem Leopoldsberg, einem beliebten Ausflugsziel, wirkte es staubig und verwahrlost. Rosa machte vor einem mächtigen frei stehenden Bau halt. Süd-, Nord- und Osttrakt schienen aus dem 17. Jahrhundert zu sein. Der schönbrunngelbe Anstrich blätterte ab, die grüne Farbe der Holzeingangstür war verblichen. Rosa fragte sich, ob das Haus bewohnt war. Solange sie sich erinnern konnte, wurde
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