Wienerherz - Kriminalroman
verzeihe mir, dass ich die Quellen nicht einzeln aufführe (es handelt sich ja nicht um eine Doktorarbeit).
Michael Moritz
LOST PLACE VIENNA
Kriminalroman
ISBN 978-3-86358-182-4
Leseprobe zu Michael Moritz,
LOST PLACE VIENNA
:
PROLOG
Jetzt musste sie einen kühlen Kopf bewahren. Aber wie sollte sie das schaffen, so nahe am Ziel? Das konnte niemand von ihr verlangen. Auch sie selbst nicht.
Wie hypnotisiert starrte sie auf das GPS und verglich die Koordinaten, die sie dem letzten Rätsel ihrer Schatzsuche entlockt hatte, mit ihrer momentanen Position. Es war kein Geocaching wie all die anderen, die sie zuvor angegangen war, um sich eine Region oder eine Stadt spielerisch zu erobern. Diesmal war daraus eine Jagd geworden, eine Hatz nach sich selbst.
Jedes Rätsel, das sie zu lösen hatte, schien etwas mit ihr, und nur mit ihr allein, zu tun zu haben. Was eine Therapie nicht vermocht hatte, schien diese Schnitzeljagd nach dem eigenen Ich nun einzulösen. Mit jeder neuen Koordinate, die sie weiterführte, öffnete sich in ihr ein längst vernagelt geglaubtes Fenster.
Es musste hier sein. Die Koordinaten stimmten mit der Karte überein. Gloria blickte sich um. Etwas huschte über ihre Trekkingstiefel. Sie sah hinab und erschrak nicht. Sie kannte Ratten besser als Menschen. Tausende von ihnen hatte sie schon beobachtet. Manche über Jahre, andere nur über Stunden hinweg, je nachdem, wie der Versuch aufgebaut gewesen war. Diese beiden Tiere waren dem Labor entkommen. Aber war die freie Welt besser als ein Labor? Wer konnte schon sagen, ob nicht jede Handlung, die man scheinbar aus freien Schritten vollführte, eine provozierte Tat war, die von irrsinnigen Wissenschaftlern und machtgierigen Politikern zu Markt- und Herrschaftszwecken analysiert wurde?
Gloria lachte bei dem Gedanken. Auch sie stand unter Beobachtung. Das wusste sie. Und es gefiel ihr. Sie wollte den Job. Sie hatte ihn sich verdient. Sie war so dicht an ihrem Ziel, an sich selbst. Diesen Triumph wollte sie mit der Welt teilen. Aber es war niemand da außer den Ratten. Ausgerechnet. Doch es war konsequent, dass diese Nager sie zum letzten Sturm geleiteten. Sie bogen am Ende des Kanals um die Ecke und verschwanden im Dunkel.
Gloria hatte vorgesorgt. Sie hatte geahnt, dass es in die düstere Kanalisation Wiens gehen würde. Deswegen hatte sie neben ihrer Stirnlampe auch noch einen starken Punktstrahler eingepackt. Kurz vor dem Ziel wollte sie nichts dem Zufall überlassen.
Sie folgte dem Weg, den ihr die Ratten vorgaben, und zog den Kopf ein, damit sie mit ihrem Helm nicht gegen die tief gezogenen Stahlträger stieß, die die Decke stützten. Zweimal rutschte ihr der unsichere Boden unter den Füßen weg, kullerten Steine in die Kloaken; einmal zog es ihren Stiefel in den sumpfigen Strom. Aber es machte ihr nichts aus. Selbst der beißende Gestank störte sie nicht. Sie spürte nur, wie ihr Herz raste, als sie auf den Schrein mit den Kerzen zulief.
Je näher sie kam, desto langsamer wurde sie. Das Kerzenlicht prophezeite eine düstere Messe. Leise Klänge eines Requiems drangen durch das Gewölbe. Die Ratten huschten zwischen den Kerzen hindurch. Warum fürchteten sie das Feuer nicht?
»Sie haben ebenso wenig Angst vor dem Feuer wie du, Gloria.« Die Stimme drang hinter dem Schrein hervor. »Sie sind intelligent. Wieso sollten sie das Feuer fürchten? Man muss mit seinen Ängsten nur umgehen können, dann verschwinden sie von alleine, Gloria, das weißt du doch.«
Gloria schluckte. Angst stieg in ihr hoch. Die Angst vor dem Feuer, die Angst, sich zu viel zugemutet zu haben, die Angst davor, tatsächlich dem eigenen Selbst zu begegnen.
Sie wollte sprechen, bekam aber keinen Ton heraus. Sie beobachtete die Ahnungslosen, so wie sie sie über Jahre hinweg tagein, tagaus beobachtet hatte. Die beiden Ratten schnupperten auf der Erde und in der Luft herum, dann nahmen sie Witterung auf und rasten auf zwei Kleckse Faschiertes zu.
Gloria erkannte, dass sie in die Falle liefen. Aber sie konnte sie nicht mehr warnen. Die Heimtücke schnappte zu, die Stahlbügel brachen ihnen das Genick, ihr Blut spritzte gegen das weißgelbe Wachs.
Hinter dem Schrein trat eine Gestalt hervor, eine braunlederne Maske vor dem Gesicht. Die Maske lächelte nicht, noch drohte sie. Sie war neutral. Alles, was Gloria nun sah, war nur ihre Projektion auf das neutrale Gesicht, das vor ihr lächelte und drohte, lobte und schimpfte, pries und verdammte. Und sie wusste, dass auch sie
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