Wieviele Farben hat die Sehnsucht
Liebe stehen, das Urteil die Menschlichkeit besiegen. So blieb den Ministern nur der Rat an den König, vorsichtig zu sein. Auch sie wollten auf ihn achten und ihn beschützen.
Da rief der König die Weisen des Landes zusammen und bat diese um Rat. Sie hörten sich an, was er ihnen vortrug und schwiegen lange. Der König saß und wartete. Doch ihr Schweigen hörte nicht auf, und endlich begriff der König, was die Weisen ihm mitteilten: Nur im Geschehenlassen kann alles seinen Weg gehen.
Da ging der König in seine Stube, verriegelte die Tür und saß drei läge in tiefer Versenkung, ohne Wasser und Brot zu sich zu nehmen. Visionen kamen ihm in allen Farben und Schattierungen. Er hörte so wunderbare Melodien, wie sie nie zuvor an sein Ohr gedrungen waren. Und er spürte, daß sie seinem Inneren entsprangen. Bald wurden aus den Farben weiße Flocken, die unaufhörlich aus den Wolken schneiten. Aus den Melodien wurde ein pfeifender Wind, wie er nur in den Bergen weht. Und in all dem Gewirr von Flocken streckten sich wieder und wieder Hände empor zu den Wolken.
Als nun die Zeit der Versenkung vorüber war, ging er zu Tapiro und sagte: „Wenn die erste Schneeflocke eines Winters auf deiner I fand zerschmilzt, sollst du König im Lande sein.“
Tapiro ließ sich das Versprechen des Königs durch die anderen Minister schriftlich bestätigen und zog wenige Wochen später in das höchstgelegene Dorf des Landes, denn der Winter nahte schon.
Eigentlich war es gar kein richtiges Dorf, denn die wenigen Hütten waren verfallen und standen seit vielen Jahren leer. Sie waren vor langer Zeit ein Zufluchtsort gewesen für alle, die Verfolgung und Verbannung erlitten hatten. Tag für Tag saß nun Tapiro vor einer der Hütten und beobachtete den Himmel. Als die ersten Schneewolken über den Gipfeln aufzogen, erhob er sich, um zur höchsten Stelle zu gelangen. Doch die Wolken zogen vorüber, ohne daß auch nur eine Schneeflocke die Erde berührt hatte — und so verbrachte er die Nacht in den Felsen. Fortwährend rieb er seine Hände, um sie zu wärmen. Trotzdem waren sie mit der Zeit steif und gefühllos geworden, und in seinem Barte klebte der Frost der Nacht. Sehnsüchtig erwartete er den Morgen. Der Gedanke, bald mächtigster Mann im Lande zu sein, ließ ihn alle Kälte überstehen. Im ersten Morgenlicht entdeckte er weitere Schneewolken, größer und dunkler als am Tag zuvor. Unentwegt blickte er hoch zu ihnen in unruhiger Erwartung. Endlich, wie auf ein Zeichen hin, öffnete sich der Himmel und Millionen von Schneeflocken schwebten von den Wolken zur Erde herab.
Tapiro sprang umher und hatte alle Mühe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Welche wird die erste sein?“ rief er. „Welche wird nun die erste sein?“ Doch bevor er auch nur seine Hand ausstrecken konnte, bedeckten schon die ersten Schneeflocken die Erde. Da kehrte er enttäuscht in seine Hütte zurück und schämte sich seiner Unfähigkeit. F> schämte sich so sehr, daß er nicht ins Tal zurückkehrte. Er wollte hier oben bleiben und so lange warten, bis ihm einmal die erste Schneeflocke eines Winters auf der Handfläche zerschmolz.
Doch auch in all den folgenden Jahren gelang es ihm nicht. Lind als nach zehn Jahren Tapiro noch immer nicht ins Tal zurückgekehrt war, hatten ihn die meisten schon vergessen — nur der König nicht. Jahr für Jahr hatte der König auf Tapiro gewartet, wenn der Winter seine ersten Spuren auf die Berggipfel legte.
Als nun im zehnten Winter Tapiro noch immer nicht gekommen war, ließ dem König sein Gewissen keine Ruhe mehr, und er machte sich auf, um in den Bergen nach Tapiro zu suchen. Beschwerlich war der Weg, und oft raubte ihm der eisige Wind den Atem. Doch am vierten Tage gelangte er schließlich in das verlassene Dorf und fand Tapiro, der in tiefer Versenkung vor einer Hütte saß.
Als der König vorsichtig nähertrat, öffnete Tapiro die Augen. Der König lächelte ihn an und spürte auf einmal unsagbares Glück in seinem Herzen, denn wie waren diese Augen verwandelt! Einst hatten sie ihn voller Habgier und Machthunger angeblickt, jetzt strahlten sie Wärme, unendliche Wärme und tiefe Ergebenheit aus. Und als Tapiro den König erkannte, erhob er sich, um ihm zu danken, umarmte ihn, sank auf die Knie und bat um Verzeihung. „Du hast mir meinen Weg gezeigt“, sagte er. „Dir war von Beginn der Welt an bestimmt, König zu sein — mir aber war bestimmt, in der Einsamkeit der Berge Gott zu suchen. Dank deiner
Weitere Kostenlose Bücher