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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Körner
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muß das Leben sein. Erst wenn du beständig wirst und fest, hast du den Sinn des Lebens gefunden!“
    Verwirrt erzählte der junge Mann dem Alten, was ihm die Frau in der Steppe über das Leben gesagt hatte.
    „Papperlapapp!“ fuhr der Alte ihn ärgerlich an, und seine Augen sprühten plötzlich wütende Funken. „Das Leben hat nur einen Sinn, wenn es etwas Festes, Beständiges, Bleibendes hat. Was sollen Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit? Das Leben würde sich ja darin verlieren! Vergiß schnell die Flausen, die dir diese Alte in den Kopf gesetzt hat!“ Er wühlte eifrig in einer großen Kiste und fand darin einen schweren, schwarzweiß gefleckten Stein. „Hier, ich gebe dir diesen Stein mit auf den Weg. Er soll dich immer an das erinnern, was ich dir über das Leben sagte.“
    Der junge Mann nahm den Stein. Er wog schwer in seiner Hand. Am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne ihre ersten tastenden Fühler über die Kämme des Gebirges streckte, zog er weiter. Der Falke schwebte wie schwerelos im morgendlichen Himmel, wo ein frischer Wind einige Wolken vor sich herjagte. Der Stein des Alten ließ den Wanderer beim Aufstieg schwitzen. Aber er wollte ihn nicht wegwerfen — zu sehr liebte er die Erinnerung an den alten Mann. Höher und höher kletterte er, bis er schließlich den Paß erreichte. Danach führte ihn ein schmaler Pfad langsam wieder bergab. Ein paar Tage später war das Gebirge nur noch ein leichter Schatten am Horizont, und der nächste Morgen hüllte es in einen weichen Nebelschleier.
    Der junge Mann wanderte viele Wochen. Schließlich erreichte er einen großen Wald. Nicht einmal einen Fußpfad konnte er in dem dichten Gewirr von umgestürzten Bäumen, Schlingpflanzen, Blüten und Blättern ausmachen. Mit aller Kraft bahnte er sich trotzdem einen Weg. Es roch nach Zerfall. Obwohl die Sonne kaum den feuchten Boden erreichte, keimte und sproß es überall. Am Abend kam er müde und erschöpft an eine Lichtung. Vor einer Hütte saß eine Frau und sang ein Lied in die wispernden Bäume. Als sie den Mann sah, lächelte sie, ließ sich aber nicht unterbrechen. Er wartete schweigend, bis die Frau ihn heranwinkte: „Ich freue mich, daß du gekommen bist“, lächelte sie.
    „Hast du mich denn erwartet?“ Der junge Mann trat erstaunt einen Schritt zurück. „Aber ich wußte doch selbst nicht, daß ich hierher kommen würde!“
    „Aber ich“, sagte die Frau, und ihr Lachen war so herzlich und offen, daß der junge Mann mitlachen mußte. „Du suchst den Sinn des Lebens, nicht wahr? Deshalb bist du unterwegs.“
    „Woher weißt du das?“
    „Ich wußte es schon immer.“ Die Frau sprach sehr bestimmt. „Wenn du den Sinn des Lebens erfahren willst, bleibe hier.“
    Der junge Mann blieb bei der Frau in dem wild wuchernden Urwald. Sie bereitete ihm ein warmes, weiches Lager, und er half ihr die Felder zu bestellen und bei der Jagd. Nach fünf Jahren sagte sie eines Tages zu ihm: „Morgen wirst du weiterziehen. Es ist Zeit!“
    Der Mann war damit überhaupt nicht einverstanden. Weshalb sollte er weitergehen? Ihm gefiel es hier. Er hatte alles, was er brauchte. Er wollte nicht weg.
    „Hast du vergessen, weshalb du unterwegs bist? Du hast mich nie mehr nach dem Sinn des Lebens gefragt. Hast du ihn inzwischen gefunden?“
    Der Mann schüttelte den Kopf und war auf einmal sehr bedrückt.
    „Schau dir diesen dichten Wald hier an. Er ist, wie ich mir das Leben wünsche. Hier gibt es ein ständiges Werden und Vergehen. Pflanzen und Bäume sterben und tausendfach werden andere neu geboren. Der Wald ist Kraft und ständige Erneuerung. So soll mein Leben sein, und deshalb lebe ich hier. Aber ich spüre auch, daß du nach etwas anderem suchst. Deshalb mußt du weiterziehen.“ Sie reichte dem Mann ein kleines Lederbeutelchen: „Hier, nimm diese Samenkörner mit. Wenn du gefunden hast, was du suchst, säe sie aus. Sie werden aufgehen und dich ein wenig an diese Zeit deines Lebens erinnern.“
    Obwohl er gerne bei der Frau geblieben wäre, packte der Mann am nächsten Morgen seine wenigen Habseligkeiten zusammen und machte sich wieder auf den Weg.
    Lange irrte er durch den Wald, der immer dichter und wilder wurde. Oftmals sah er nur von einem mächtigen Baum zum andern, seine Beine versanken im morastigen Boden, und seine Arme kämpften mit den herabhängenden Schlingpflanzen. Abends, wenn er zerschunden und müde seine Decke ausrollte, um sich schlafen zu legen, zerzauste oft ein kühler Westwind die Wipfel

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