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Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Körner
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ganzes Jahr warst du nun hier und hast nicht begriffen, was der Sinn des Lebens ist?“
    Der junge Mann starrte ein wenig verlegen in den Himmel, an dem die ersten Sterne das Tageslicht besiegt hatten: „Nein“, flüsterte er.
    „Schau nicht in den Himmel, mein Sohn!“ Die Alte stupste ihn mit dem Ellenbogen. „Dort hinaus mußt du sehen!“ Sie deutete mit beiden Armen in einer weit ausholenden Bewegung über das Land. „Na, was siehst du da?“
    „Die Steppe! Sonst eigentlich nichts.“ Der junge Mann wurde trotzig. Was sollte das? Seit einem Jahr sah er diese Steppe.
    „Sonst nichts, sagst du?“ Die Alte lächelte, und um ihren Mund legte sich eine kleine Spottfalte. „Sonst nichts? Die Steppe hat dir jeden Tag den Sinn des Lebens gezeigt! Ist sie nicht grenzenlos, unendlich fast? Sie ist weit. Sie atmet Freiheit mit jedem Windhauch - das ist der Sinn des Lebens! Wie die Steppe muß das Leben sein, sonst hast du es verfehlt!“ Daraufhin nahm die Alte wieder eine Kartoffel aus dem Korb, schälte sie und sprach kein Wort mehr.
    Am nächsten Morgen verabschiedete sie sich jedoch herzlich von dem jungen Mann, gab ihm Brot, Käse und eine Wasserflasche mit. Als er sich schon abwenden wollte, hielt sie ihn zurück: „Nimm den Falken mit“, sagte sie. „Fr hat sich an dich gewöhnt und außerdem soll er dich immer an das erinnern, was ich dir gestern gesagt habe. Der Falke ist ein Kind der Steppe.“
    Gerne nahm der Mann den Falken mit. Meist flog dieser hoch über ihm, kreiste manchmal bis zum fernen Horizont, kam aber immer zurück auf die ausgestreckte Hand des jungen Wanderers.
    Nach vielen Tagen hatte er die Steppe hinter sich gelassen und stand am Fuße eines hoch aufragenden Gebirges. Die wilden Schluchten und schroffen Felsen schreckten ihn. Trotzdem ließ er sich in seinem Weg nicht beirren. Er wagte sich in die geheimnisvolle Stille einer engen Schlucht, die den Himmel über ihm auszulöschen schien. Nur das Echo seiner eigenen Schritte und das gelegentliche Krächzen des Falken, der ein wenig ängstlich auf seiner Schulter saß, begleiteten ihn auf dem felsigen, verwirrend verschlungenen Pfad. Als es Abend wurde, entdeckte er unter einem mächtigen Felsvorsprung ein kleines, schiefergedecktes Haus. Der Wind wirbelte durch den dünnen, weißen Rauch, kaum daß er aus dem kleinen Schornstein kam.
    Der junge Mann klopfte an die schwere Holztür, und nach einiger Zeit öffnete sich diese knarrend und ächzend, gerade so, als hätte sie sich schon lange nicht mehr bewegt. Ein weißhaariger Alter schaute ihn verwundert an. „Ein fremder Wanderer? Hier?“ Er schien sich zu wundern, aber gleichzeitig lachte Freude aus seinen Gesichtsfalten. „Es ist lange her, seit jemand an diese Tür geklopft hat. Komm herein, sei willkommen und ruh dich aus.“ Nachdem sich der junge am Ofen aufgewärmt hatte, erklärte er, warum er unterwegs ist. „Wenn du bei mir bleibst“, sagte der Alte und rieb sich dabei die Hände über dem Ofen, „werde ich dich lehren, den Sinn des Lebens zu finden.“
    Der junge Mann zögerte nicht einen Atemzug. Dankbar nahm er die Einladung des Alten an. Er versorgte dessen Schafe, lernte Butter stampfen, sammelte Holz für die harten Wintermonate, und an stillen Abenden erzählte ihm der Alte Geschichten.
    Es war einer dieser Abende. Sie hatten gegessen, die Schafe blökten leise im Stall hinter dem Haus, und der Hund des Alten zuckte im Schlaf mit den Pfoten. Schließlich stellte der junge Mann die Frage, auf deren Antwort er schon seit drei Jahren wartete: „Als ich hier ankam“, begann er ein wenig unsicher, „wolltest du mich den Sinn des Lebens lehren. Nun war ich drei lange Jahre bei dir und habe viel erlebt und gelernt - den Sinn des Lebens hast du mich jedoch nie gelehrt!“
    „Hab ich das nicht?“ Der Greis fuhr sich mit einer Hand durch das schüttere, weiße Haar. „Oder hast du einfach deine Augen nicht aufgemacht? Der Sinn des Lebens wird dir doch täglich gezeigt! Die Steine, die Felsen, die Grate, die Schluchten, das ganze Gebirge hier zeigt dir doch jeden Tag den Sinn des Lebens.“
    „Das verstehe ich nun aber wirklich nicht.“ Der junge Mann schüttelte den Kopf und war ziemlich enttäuscht.
    „Nicht?“ Der Mann schloß müde die Augen. Dann flüsterte er: „Der Sinn jeden Lebens ähnelt diesem Gebirge hier. Deshalb habe ich auch meine Hütte hier gebaut. Schau, das Gebirge ist fest und hart. Alles hat seinen Platz, ist unveränderlich und beständig. So

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