Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Wieviele Farben hat die Sehnsucht

Titel: Wieviele Farben hat die Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Körner
Vom Netzwerk:
sie?“
    „Aber sicher“, nickte sein Vater, „ich habe sie nie vergessen. Es waren eigenartige Sätze. Einer lautete: Es liegt in deiner Hand, du bestimmst dein Leben, auch wenn es nicht immer so scheint.“ Nachdenklich blickte er vor sich hin und schwieg.
    „Und die anderen Sätze?“ fragte sein Sohn weiter.
    „Ach ja!“ Der Alte schien aus einem Traum zu erwachen, und es war, als müsse er erst wieder zu sich finden. Doch dann sprach er weiter: „Der zweite Satz war: Versuche die Menschen zu lieben, auch wenn sic es dir nicht leicht machen werden. Ich glaube, daß ich diesen Satz einigermaßen verstanden habe. Immer habe ich im Grunde versucht, auch so zu leben, obwohl ich heute fürchte, daß ich viel zu selten geliebt habe.“
    Wieder lächelte sein Sohn, und dieses Mal war er es, der eine Weile nachdenklich vor sich hinblickte.
    „Der dritte Satz“, fuhr sein Vater fort, „war der seltsamste. Ich habe ihn wohl nie ganz begriffen: Laß es so geschehen, wie es ist, auch wenn du manchmal lieber gegen vieles kämpfen möchtest.“ Er schwieg, und es schien, als habe er die Erzählung beendet.
    Gedankenverloren folgte der Blick seines Sohnes einem welken Blatt, das im leichten Sommerwind zur Erde schwebte. Schließlich sagte er: „Es lohnt sich, über alle drei Sätze nachzudenken und zu reden, Vater. Mir scheint, du hast sie meistens nur mit dir herumgetragen und nur wenig davon verstanden, wenn ich dich und dein Leben so betrachte.“
    Sein Vater blickte ihm aufmerksam ins Gesicht. „Da magst du vielleicht recht haben“, sagte er traurig und fuhr fort: „Weißt du, je älter ich wurde, desto mehr habe ich das auch gefühlt. Doch denke ich, daß nicht jeder dieser drei Sätze so stimmen muß. Man kann darüber auch streiten — obwohl ich es manchmal, tief in mir, anders fühle. Und heute ist es für vieles zu spät, mein Sohn.“
    „Ich weiß nicht, Vater“, sagte der junge Mann. „Oft ist es nur eine Ausrede, wenn jemand so etwas sagt. Aber wie ging denn die Geschichte mit dieser Frau weiter?“

    Jetzt war es der Vater, der seinen Sohn liebevoll anblickte und am liebsten in die Arme genommen hätte. Auch er erzählte statt dessen weiter: „Es war damals sehr spät geworden über meinem vielen Gerede und bereits dunkel, als ich auf einmal nichts mehr zu reden wußte. Da setzte sich diese Frau zu mir und nahm mich in ihre Arme.“ Der Alte lächelte und seufzte tief. „Und dann war sie sehr zärtlich zu mir. Ich glaube, sie brachte mir die Liebe bei, wie man das zu nennen pflegt. Nie wieder habe ich solch eine Frau erlebt.“
    „Du meinst körperliche Liebe?“ wollte sein Sohn wissen.
    Der Vater nickte: „ja und nein. Es war mehr als körperliche Liebe, da war so vieles.“ Wieder schwieg er eine ganze Weile, bevor er stockend weitererzählte: „Es ist einfach nicht in Worte zu fassen, was da geschah. Weißt du, es war, als würde ich plötzlich losfliegen, mitten in den Sternenhimmel über uns. Der Mond hob mich empor und nahm mich in sich auf. Und die Sonne gab mir Kraft und zündete etwas in mir an, obwohl sie nicht einmal zu sehen war. Und die Sterne tanzten um mich, und ich flog mitten ins All, ins Herz aller Dinge. Und ich fühlte und erlebte, was ich einfach nicht beschreiben kann. Die Zeit stand still, und dann raste sie wieder an mir vorbei. Mein Körper schien auseinanderzubrechen, und doch fühlte ich mich so fest und sicher in mir wie nie zuvor. Manchmal dachte ich, vor lauter wilder Leidenschaft irre zu werden, und doch war es in mir unglaublich still und friedlich.“ Lr schüttelte den Kopf. „Ach, es ist einfach unbeschreiblich gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes, was diese Frau damals mit mir gemacht hat.“
    Vater und Sohn blickten sich lange an. Dann sagte der Sohn: „Fs war ja nicht nur die Frau, die etwas gemacht hat. Du hast ja auch dazu beigetragen, oder nicht?“
    Sie saßen eine ganze Zeitlang schweigend beieinander. Es war still unter dem Baum und in der Nacht, und ein klarer, wunderschöner Sternenhimmel tat sich über ihnen auf. Die beiden Männer hingen ihren Gedanken nach, jeder seinen und doch den gleichen. Irgendwann räusperte sich der Sohn und fragte: „Und was geschah dann noch weiter, Vater?“
    Sein Vater hob den Kopf, und wieder schien es, als wäre er eben erst aus einer anderen Welt zurückgekehrt. Schließlich antwortete er: „Eigentlich nichts Besonderes. Irgendwann in der Nacht bin ich damals zu mir gekommen. Es hat lange gedauert, bis ich

Weitere Kostenlose Bücher