Wieviele Farben hat die Sehnsucht
in den Spiegel und freute sich daran, wie das kleine Kind darin wuchs, älter und reifer wurde. Nach langen Jahren kam sie wieder einmal in die Nähe ihrer alten Hütte. Sie suchte den kleinen See im Wald auf Dort hatte sich kaum etwas verändert. Die Büsche standen ein wenig dichter, und die Bäume streckten ihre Kronen noch höher in den Himmel. Die Zauberin saß auf dem großen Stein und winkte ihr freudig zu. „Du bist älter geworden. Trotzdem leuchtet in deinen Augen noch der Blick des Mädchens, das mich aus dem Netz befreit hat“, begrüßte sie Enea. Liebevoll umarmten sie sich.
„Ich bin froh, dich hier zu treffen. Ich will dir danken und dir deinen Spiegel wiedergeben. Er hat mir sehr geholfen.“
„Nicht der Spiegel hat dir geholfen! Er hat dir nur gezeigt, was du sowieso gewußt hast. Du wolltest es nur allzuoft nicht wahrhaben“, sagte die Zauberin. „Komm, schau noch ein letztes Mal hinein.“
Die Zauberin nahm den Spiegel und hielt ihn Enea hin. Ein Gesicht blickte Enea ernst und offen an: das Gesicht eines kleinen Kindes, das eines Mädchens, einer Frau, einer Königin in abgetragenen Kleidern. Und ein wenig meinte sie auch die weisen Züge der Zauberin zu erkennen.
Und doch war es nur ein Gesicht — ihr eigenes.
Die Frau aus dem Regenbogen
Heinz Körner
E s war einmal ein Mann, der in seiner Jugend etwas sehr Seltsames erlebt hatte. Niemals hatte er darüber gesprochen, niemandem davon erzählt. Doch immer hatte er dieses Erlebnis in sich getragen und keinen einzigen Augenblick davon vergessen.
An einem lauen Sommerabend saß dieser Mann mit seinem Sohn unter einem Baum, um sich ein wenig auszuruhen. Und an diesem Abend begann er zu erzählen, gerade als die Sonne sich verabschiedete, und die Nacht sanft und warm den Alten und seinen Sohn in ihre Arme nahm: „Unter diesem Baum, mein Junge, da bin ich vor vielen, vielen Jahren auch gesessen, als mir damals etwas Unerklärliches und Geheimnisvolles geschah.“
Sein Sohn blickte ihn erstaunt an. Nie war sein Vater ein großer Erzähler gewesen. Doch nun fuhr er fort: „Es war auch so ein warmer Sommertag wie heute. Ich war noch jung, etwa in deinem Alter. Ich suchte ein wenig Ruhe und ging spazieren, als mich plötzlich ein Regen überraschte, einer von diesen kurzen, aber heftigen Sommerregen. Unter diesem Baum fand ich damals Schutz. Und nach dem Regen blieb ich noch ein wenig sitzen, um mich von der Sonne wieder wärmen und trocknen zu lassen.“
Er atmete tief durch, schwieg eine Weile und blickte seinem Sohn forschend in die Augen. Dieser erwiderte den Blick seines Vaters offen und aufmerksam und wartete. „Ja“, sprach der Alte weiter, „dann geschah es. Ich weiß nicht, ob ich eingeschlafen war oder was auch immer geschehen sein mag, jedenfalls schreckte ich plötzlich auf. Ein unglaublich schöner Regenbogen überspannte den ganzen Himmel. Doch seltsam: Das Ende dieses Regenbogens schien nur wenige Schritte von mir entfernt zu sein. Ich war verwirrt und wußte nicht, wie mir geschah. Da trat plötzlich aus diesem Rausch der Farben eine Frau auf mich zu.“
Sein Sohn runzelte ein wenig die Stirn. Der Alte nahm dies wohl wahr, redete aber einfach weiter: „Ich weiß, daß das verrückt klingt. Aber glaub mir: Genauso ist es damals geschehen.“
Noch einmal holte er tief Luft. „Diese Frau war wie ein Traum. Sie war alles, was sich ein Mann bei einer Frau nur wünschen kann. Ich meine nicht nur Äußerlichkeiten. Obwohl ich sie ja nie zuvor gesehen hatte, wußte ich das alles sofort. Wirklich seltsam...“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nun ja, wie dem auch sei“, nahm er den Faden wieder auf, „diese Frau aus dem Regenbogen setzte sich neben mich und sprach mit mir. Um ehrlich zu sein: Ich sprach mit ihr. Sie selbst sagte eigentlich nur drei Sätze. Aber ich erzählte und erzählte und konnte gar nicht aufhören. Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht meine Unsicherheit, wer weißr 1 Ich redete von mir und meinen Träumen, von meinen Sorgen und Nöten, von allem Möglichen. Später schämte ich mich, weil ich wie ein Wasserfall geredet hatte. Doch ich glaube, sie hat es verstanden. Wohl niemals in meinem Leben habe ich so viel und so lange geredet wie damals.“
Sein Sohn blickte ihn liebevoll an, fühlte sich seinem Vater auf einmal sehr nahe und hätte ihn am liebsten in die Arme genommen. Doch er tat es nicht, sondern fragte: „Diese drei Sätze, Vater, erinnerst du dich noch an
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