Wikinger der Liebe
Manchmal sah er weit draußen in den Wellen eine schemenhafte Gestalt, die seinen Blick erwiderte. Doch sie näherte sich kein einziges Mal.
»Was für eine seltsame Geschichte«, meinte Hawk nachdenklich. Er hatte schon viele merkwürdige Erzählungen gehört. Aber diese übertraf alle anderen. Wenn er sie auch nicht für bare Münze nehmen wollte, musste er doch zugeben, dass sich gerade die sonderbarsten Geschichten als wahr herausstellten. Zum Beispiel behauptete man, im Westen liege eine Insel voller Berge, die feurigen Schlamm ausspeien würden. Welcher vernünftige Mensch würde so etwas glauben? Doch er kannte Männer, an deren Verstand er nicht zweifelte, und die schworen, sie hätten das Schauspiel mit eigenen Augen gesehen.
Seinen Gast schienen ähnliche Gedanken zu bewegen. »Sicher, das klingt unwahrscheinlich. Aber wer weiß? Und wenn es solche Geschöpfe irgendwo gibt, dann wohl nur in Irland. Warst du jemals dort?«
»Nein«, erwiderte Hawk, und er nahm auch nicht an, er würde jemals in dieses- Land reisen. In England hatte er alle Hände voll zu tun, um Alfred in seinem Streben nach Recht und Ordnung zu unterstützen.
»Die Norweger halten eine Stellung in Dubh Linn«, fuhr Dragon fort. »Wenn es den Iren nicht gelingt, ihre zahlreichen Clans zu vereinen, werden sie vermutlich noch weitere Teile ihrer schönen Insel verlieren.«
»Was veranlasst euch Wikinger, immer neue Gebiete zu erobern?« Mit dieser Frage wollte Hawk den Freund nicht beleidigen. Er war einfach nur neugierig. Die Dänen glaubte er zu verstehen, denn sie wurden von der gleichen Gier nach Reichtum und Macht getrieben wie viele Sachsen. Doch die Norweger, mit den Dänen verwandt, trachteten vor allem nach Landbesitz.
»Vielleicht, weil es uns an Grund und Boden mangelt«, entgegnete Dragon kein bisschen gekränkt. »Wir bewohnen ein schönes, aber raues Land. Nur in den kurzen Sommermonaten gedeiht ein bisschen Gemüse. Im Winter können wir nicht einmal die Früchte des Meeres ernten. Unsere Familien sind traditionsgemäß sehr groß. Deshalb müssen manche Wikinger ihren Lebensunterhalt woanders bestreiten.«
Diese Erklärung klang einleuchtend. Während Hawk darüber nachdachte, sah er seine Braut plötzlich erbleichen. Da der Mond hell genug schien, waren Fackeln überflüssig. Im Silberlicht wich alles Blut aus Krystas Wangen. Die Lippen zusammengepresst, starrte sie auf ihre Finger hinab, die sie im Schoß ineinander schlang. Warum wirkte sie so bedrückt? »Stimmt was nicht?«, fragte er.
Mit großen Augen schaute sie ihn an. Bestürzt las er kalte Angst in ihrem Blick. »Ich bin nur müde«, antwortete sie und lächelte gezwungen.
Daran glaubte er keine Sekunde lang. Irgendetwas bekümmerte sie. Was mochte es sein? Aufmerksam musterte er die Tischgesellschaft. Daria und Vater Elbert steckten die Köpfe zusammen und runzelten die Stirn. Im Verhalten der beiden entdeckte er nichts Ungewöhnliches. Eine hübsche Dienerin saß auf Edvards Knien. Fröhlich schwatzte das junge Paar. Hawks Ritter tranken und lachten mit den norwegischen Gästen. Da gab es nichts, was ihm auffallen müsste. An einem anderen Tisch saßen die sonderbaren Dienstboten seiner Verlobten, Thorgold und Raven, offensichtlich zufrieden. Was sonst...? Er überdachte, was in den letzten Minuten geschehen war, doch er erinnerte sich an nichts, das Krystas seltsames Benehmen verursacht haben könnte. Gewiss, Dragon hatte sie mit ihrem Täuschungsmanöver geneckt - mit ihrer Ankunft als ihre eigene Magd. Doch das war ihr nicht allzu nahe gegangen. Und inzwischen schien sie auch nicht mehr zu bereuen, dass sie ihre Sympathie für Frigg bekundet hatte. Was quälte sie jetzt? Zeigte er sein Verlangen nach ihr zu deutlich? Bei jenem Kuss im Stall hatte er nicht den Eindruck gewonnen, sie würde seine Leidenschaft fürchten.
Schließlich sagte er sich, sie sei ein unerfahrenes junges Mädchen, erst vor kurzer Zeit in einem fremden Land eingetroffen - die Braut eines Unbekannten, dem man sie ohne Rücksicht auf ihre Gefühle versprochen hatte, der über ihre Zukunft bestimmen würde. Dass dieses Schicksal unzählige Frauen ereilte, war wohl nur ein schwacher Trost.
Widerstrebend dachte er an seine erste Frau. Seit jener kurzen Ehe waren viele Jahre verstrichen, und er erinnerte sich nur verschwommen an ihr Gesicht, aber umso besser an ihre Furcht vor der Hochzeitsnacht. Auch danach war sie immer wieder vor ihm zurückgeschreckt.
Bei aller Bescheidenheit
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