Wikinger meiner Traeume - Roman
wenig später wieder entrissen worden war, wünschte Rycca, sie hätte es niemals kennen gelernt. Wäre das Schicksal barmherziger gewesen, hätte sie der Sturz von der Klippe ins Jenseits befördert.
Nein, sie durfte nicht im Selbstmitleid versinken. Das Leben war ein Gottesgeschenk, mochte es auch Kummer und Leid mit sich bringen – man durfte den Tod nicht herbeisehnen.
Geistesabwesend drehte sie am Strick, der ihre Handgelenke
fesselte. Magda hatte einen ziemlich lockeren Knoten geschlungen. Mühelos könnte sich Rycca befreien.
Und was sollte sie dann tun? Wieder einmal die Flucht ergreifen? Sie unterdrückte ein bitteres Gelächter. Wohin würde sie denn laufen? Sie war an den Mann gebunden, der ihr die schlimmsten Missetaten zutraute. Trotzdem fürchtete sie sich nicht. Bei diesem Gedanken zuckte sie erstaunt zusammen.
Seltsam – sie fürchtete sich nicht.
Wie war das möglich? Jahrelang war sie in ihren Albträumen von den Gräueltaten der Wikinger verfolgt worden. Jetzt war sie in einer Wikingerstadt an einen Marterpfahl gefesselt. Und sie fürchtete sich nicht. Statt Angst und Grauen empfand sie eine sonderbare heitere Gelassenheit.
Alles würde sich zum Guten wenden. Weil sie unschuldig war. Das würde Dragon herausfinden. So wie er Olavs Unschuld erkannt hatte. Dann würde er eine andere Erklärung für die schrecklichen Zwischenfälle suchen. Im Gegensatz zu ihrem Vater war er kein brutaler, rachsüchtiger Mann. Niemals würde er ihr wehtun. Sie musste nur warten, bis ihm die Wahrheit bewusst wurde.
Wie töricht von ihr zu glauben, Magdas freundliche Gesten würden ihn erzürnen... Natürlich würde er der älteren Frau, die ihm schon seit vielen Jahren getreulich diente, keine Vorwürfe machen. Und die gute Magda würde gewiss nichts tun, was ihrem Herrn missfallen könnte. Das bedeutete... Plötzlich stockte Ryccas Atem.
Mit schmalen Augen schaute sie in die silbrige Nacht. Keine Menschenseele regte sich im Hof. Trotzdem gewann sie die Überzeugung, dass sie nicht allein war.
Obwohl sie sich albern fühlte, wurde sie von einer unwiderstehlichen Sehnsucht ermutigt. »Dragon?«, wisperte sie. »Bist du da? Hörst du mich?«
Hatte sie seine Nähe tatsächlich gespürt? Unglaublich...
Gib ihr keine Antwort, ermahnte sich Dragon. Vielleicht lauerte die Person, die er entlarven wollte, bereits in irgendeinem Winkel, um einen günstigen Augenblick abzuwarten. Wenn er jetzt sprach, würde er seinen eigenen Plan durchkreuzen. Und doch – dem flehenden Klang dieser Stimme konnte er nicht widerstehen.
»Sei still, Rycca!«, flüsterte er. »Wo ich bin, darf niemand wissen.«
Heiße Freude stieg in ihr auf. In maßloser Erleichterung hätte sie beinahe geschrien. Also war ihre heimliche Hoffnung berechtigt gewesen – er ließ sie nicht allein in dieser kalten Nacht. »Dragon, warum...«
»Still! Darüber reden wir später.«
Gehorsam wie eh und je – bei diesem Gedanken hätte sie beinahe laut gelacht – presste sie ihre Lippen zusammen und schwieg. Aber ihren Gedanken musste sie nicht Einhalt gebieten. Dragon war hier, und er bewachte sie. Offenbar erwartete er, irgendetwas würde geschehen. Und was? Dass sie dumm genug wäre, um einen Fluchtversuch zu wagen? Keine Sekunde lang glaubte sie, er würde ihr eine solche Falle stellen. Nein, er nahm an, der wahre Schuldige würde sich zeigen – der Schurke, der ihnen beiden zu schaden suchte.
Deshalb benutzte er sie als – Köder.
Wenn das alles vorbei war, würde sich ihr lieber Gemahl besonders wortreich entschuldigen müssen.
Weil sie fürchtete, ihr strahlendes Lächeln würde den Plan verraten, zog sie hastig den Zipfel einer Wolldecke über ihr Gesicht. Wenig später schlief sie wieder ein, sicher geborgen unter Dragons wachsamen Augen.
18
Im Gegensatz zu seiner Frau tat der Jarl von Landsende kein Auge zu. An beschwerliche Kriegszeiten gewöhnt, hielt er die ganze Nacht Wache. Im Hof rührte sich nichts. Kaum ein Laut erklang, bis am Morgen die Hähne krähten.
Kurz danach erschien Magda und entfernte sich mit Rycca. Als sie zurückkehrten, drängte die ältere Frau ihre Herrin, etwas zu essen. Rycca versprach, sie würde es versuchen. Das meinte sie ernst, nachdem sich ihre Stimmung inzwischen erheblich gebessert hatte. Aber allein schon der Geruch des Haferbreis krampfte ihren Magen zusammen, und sie stellte die Schüssel beiseite, ohne ihr Frühstück auch nur zu kosten.
Damit erzürnte sie Dragon, der immer noch hinter der
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