Wild (German Edition)
Verfolgerin saß. Unaufmerksam war sie jedenfalls nicht. Sie hatte feine Drähte gespannt, die ihr Lager schützten, wie ich merkte, als ich darüber stolperte.
»Peas!«
Sie wich zurück, als ich auf sie zuwankte.
»Peas!«, rief sie erneut. »Ich wusste ja nicht … wie schön, dass du lebst!«
Es fiel mir nicht schwer, mich auf die Knie fallen zu lassen. Zu husten. Ich spuckte Blut in meine Hand. Meine Schluchzer hörten sich an wie eine Mischung aus hysterischem Lachen und bellendem Husten. Ich fiel. Und blieb liegen. Spielte toter Mann. Hoffentlich hatte sie ein schlechtes Gewissen.
Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete ich, wie sie wieder näherkam, zu ihrem Lagerplatz. Neben einer an Morbus Sechs verstorbenen Leiche wollte sie garantiert nicht bleiben. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen, um sich ein anderes Versteck zu suchen. Sie drehte mir den Rücken zu. Ein fataler Fehler.
Ich sprang auf, war im nächsten Moment hinter ihr, und legte ihr meine rote, blutige, klebrige Hand über Nase und Mund.
Happiness schrie auf, schüttelte mich ab, sprang von mir fort. Ihr Gesicht verschmiert von verseuchtem Blut.
»Du Biest!«, schrie sie. »Du verdammtes Biest!«
Ich hätte es verstanden, wenn sie ihre Waffe gezogen und mich auf der Stelle erschossen hätte, aber daran dachte sie nicht mehr in ihrer Panik. Sie stürzte fort, sie fluchte und schrie und weinte. Wer hätte gedacht, dass die lehrerinnenhafte Frau Zuckermann so heulen konnte? Zurück zum Sumpf. Zur Stadt, wo man ihr eventuell das Tor öffnen würde. Bis sie dort war, würde sie genauso Blut husten wie ich.
Mein Lächeln war wie eine Blume im Winter – eine kleine Überraschung.
»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte ich. »Viel Spaß mit Morbus Sechs.« Und setzte mich an ihr Feuer.
An so vieles hätte ich denken können, aber ich dachte über meinen Kids-for-freedom-Mantel nach. Was für ein Glück, dass sie mir dieses wertvolle Kleidungsstück gelassen hatten. Ein Mantel, den die Wilden auf jeden Fall mitnehmen würden, jetzt im Winter, nicht wahr? Den sie sogar einer Leiche ausziehen würden.
Während die Stunden vergingen, suchte ich ihn geduldig nach eingenähten Ortungschips ab und entfernte drei winzige runde Metallstücke.
Ich wartete.
Als die Wintersonne sich dem höchsten Punkt näherte, triumphierend eine Weile dort verharrte und dann auf den Horizont zukroch, kamen sie.
Sie waren zu dritt: Gabriel. Helm. Und Orion. Seine Augen waren immer noch so grün wie ein Wald im Sommer und wie das Ufer eines stillen Sees.
Wie merkwürdig, dachte ich, dass sie nicht umsonst gekommen sind. Dass ich wirklich immer noch lebe.
38.
Das Lager lag an einem Teich, der auf der einen Seite von Bäumen, auf der anderen Seite von ein paar Felsen eingerahmt war. Dort stürzte ein kleiner Wasserfall herunter und schäumte tüchtig. Eiskalt war das Wasser, aber es fror nicht zu. Ich überlegte, ob ich wohl mutig genug war, darin zu baden. Eine Lungenentzündung konnte ich jetzt nicht gebrauchen.
»Alfred will dich sprechen«, sagte Jeska. Sie stand hinter mir und rieb sich die Oberarme.
»Wenn ich dürfte, würde ich dir meinen Mantel ausleihen«, sagte ich.
»Lass mal lieber.« Sie war wieder ein Stück gewachsen und überragte mich um einen halben Kopf. Der Mantel von Truth Mozarts edler Marke hätte uns beiden gepasst, doch solange ich nichts Näheres wusste, fasste ich niemanden an und tauschte auch keine Kleidungsstücke.
»Und Mutter sagt, du sollst Alfred ausrichten, dass zum Mittagessen genug übrigbleibt. Weston hat zwei Kaninchen gefangen.«
Weston war mein Vater. Ich war nicht wenig überrascht gewesen, dass mich außer meiner Mutter, meiner kleinen Schwester und meinem stummen Bruder ein neuer Vater erwartete. Er war ein ruhiger, breitschultriger Mann aus der Gruppe der Wölfe. Paulus hatte ihn mitgebracht, und Ricarda war mit ihm einverstanden gewesen. Benommen von dem Verlust ihrer großen Tochter – mir –, hatte sie zugesagt. Weston war stark, er hatte die Arme eines Holzfällers, und er war sanft zu Benni, also hatte sie ihr Einverständnis gegeben. Ein Fallensteller war er außerdem, und seither gab es öfter Fleisch bei uns.
Sie brachten Alfred und mir immer eine ordentliche Portion, damit ich mich erholte und wieder ganz gesund wurde. Orion lebte nicht mehr bei ihm, denn noch im Herbst war er zusammen mit seiner Wildkatze in Luminas Zelt gezogen. Da ich verschwunden war, hatte er keinen Grund mehr gehabt, sich als
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