Wild und frei
er wohnt, nicht wahr?”
“Ja, am Weg zur Mühle, am Galgenbaum vorbei.”
“Lauf, so schnell du kannst, zu ihm, und erzähl ihm alles, was du mir gerade erzählt hast. Und sag ihm, er muss gleich hierherkommen und genug Männer mitbringen, damit sie Bosley fangen und einsperren können. Verstehst du mich?”
“Jawoll.” Dickons rundes Engelsgesicht strahlte vor Freude bei der Aussicht, in Rowenas Augen alles wieder gutmachen zu können.
“Und dann sagst du ihm noch, dass ich glaube, Bosley hat gestern auch Mistress Sibyl getötet. Hast du das verstanden?”
“Jawoll, Mistress.” Er war eifrig bemüht, alles richtig zu machen. Dennoch machte Rowena sich Sorgen, als er davonlief. Würde er es überhaupt schaffen, den Wachtmeister zu finden? Und wenn ja, wäre er in der Lage, sich an alles zu erinnern, was er sagen sollte? Am allerwichtigsten aber war: Würde man ihm glauben? Ihr blieb nichts übrig, als das Beste zu hoffen und sich auf die göttliche Gerechtigkeit zu verlassen.
Ihre Blicke folgten Dickons Blondschopf, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war. Als sie sich zum Haus umdrehte, kam ihr in den Sinn, dass sich der verzweifelte Kampf gegen Edward Bosley jetzt seinem Ende näherte. Dass sie Dickon getroffen hatte, war ein unglaublicher Glücksfall gewesen. Wenn ihr Glück andauerte, blieb ihr wenig mehr zu tun, als auf den Wachtmeister und seine Männer zu warten, sie zu Bosleys Kammer zu führen und ruhig zuzusehen, wie sie den Mörder aus seinem Bett heraus verhafteten. Wenn man Bosley dann noch dazu bringen könnte, das Verbrechen an Sibyl zu gestehen, wäre Black Otters Name reingewaschen. Sie wären beide frei.
Einen Augenblick verweilte sie bei den leeren Gehegen, sah zu, wie die Morgenröte allmählich den Himmel in zartes Licht tauchte, und stellte sich vor, wie wunderbar diese Freiheit sein würde. Sie könnte in Windeseile nach Falmouth reiten, gerade noch rechtzeitig, um Black Otters Abreise zu verhindern. Dann, wenn alles bereit wäre, könnte sie den Schmuck verkaufen, ein zuverlässiges Schiff anheuern und mit Black Otter nach Amerika reisen. Allein der Gedanke daran, Amerika mit eigenen Augen zu sehen, sich dort vielleicht sogar ein neues Leben aufzubauen mit dem Mann, den sie liebte …
Aber das waren Tagträume, und jetzt war nicht die Zeit für solche Torheiten. Es war gar nicht auszudenken, was alles schiefgehen konnte. Vielleicht würde Dickon sich verlaufen oder es nicht schaffen, Hilfe zu holen. Es war auch möglich, dass Bosley die Geschichte des jungen Mannes widerlegte – er war immerhin ein vorzüglicher Schauspieler. Black Otter könnte auf dem Weg nach Falmouth abgefangen werden, ohne eine Möglichkeit zu haben, seine Unschuld zu beweisen, und als jemand, der nach den englischen Gesetzen keinerlei Rechte besaß …
Rowena zerknüllte mit den Händen den Stoff ihres Rockes, während sie versuchte, ihre Selbstbeherrschung zu behalten. Hier zu stehen und an all die schrecklichen Möglichkeiten zu denken, brachte sie fast um den Verstand. Sie musste handeln, aber nicht unbesonnen oder leichtsinnig. Es war unbedingt erforderlich, jeden Schritt genau zu planen.
Was war zuerst zu tun? Losreiten und Black Otter suchen? Nein, wenn Suchtrupps unterwegs wären, würde sie ihnen damit den Weg zu ihm weisen. Lieber ins Haus gehen, sich vergewissern, dass der Schmuck noch da war, und sich zurechtmachen. Dickon war zu unschuldig, um sich etwas dabei zu denken, wie sie aussah in ihrer durchnässten, unordentlichen Kleidung, mit dem zerzausten Haar und der nur noch schwach wahrnehmbaren, aber dennoch unverkennbaren Aura der Liebesnacht, die hinter ihr lag. Den Männern des Wachtmeisters und ihren eigenen Dienern würde jedoch nichts entgehen. Es war gar nicht auszudenken, was geschehen konnte, falls sie darauf kämen, dass sie die Nacht in einer Höhle mit dem Wilden verbracht hatte.
Sie raffte sich auf, um endlich etwas zu tun, und schritt auf das Haus zu. Hier droht keine Gefahr, beruhigte sie sich. Bosley war gestern Abend sturzbetrunken gewesen, und wenn das der Fall war, hatte sie noch nie erlebt, dass er sich vor der Mittagszeit blicken ließ. Was die Diener anbelangte, sie würden bald überall an der Arbeit sein. Vielleicht hantierte Bessie bereits geschäftig in der Küche herum und bereitete das Frühstück zu, während ihre Helfer frische Milch und Eier aus den Ställen holten. In ihrer Gesellschaft konnte sie sich sicher fühlen, bis der Wachtmeister und seine
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