Wilde Saat
Sie hatte nie zugela s sen, daß ihre Leute oder sonst ein Mensch das volle Ausmaß ihrer Macht erkannten. Es sei denn, ihr Leben war in Gefahr und No t wehr zwang sie, zu handeln. Und nun sollte sie diese Praxis plöt z lich aufgeben, nur weil ein Fremder auftauchte, der das von ihr verlangte? Er hatte viele Worte gemacht, aber was hatte er ihr ta t sächlich über sich gesagt? Nichts.
»Kann meine Tarnung eine Lüge sein, während die de i ne es nicht ist?« fragte sie.
»Meine Tarnung ist eine Lüge«, sagte er.
»Dann zeig mir zuerst, wer du bist. Zeig, daß du mir ve r traust, so wie du von mir verlangst, daß ich dir ve r traue!«
»Ich vertraue dir, Anyanwu. Doch das Wissen über mich würde dich nur in Angst und Schrecken verse t zen.«
»Ich bin also in deinen Augen noch ein Kind«, sagte sie verärgert. »Bist du meine Mutter, die mich vor den Wah r heiten der Erwachsenen b e schützen muß?«
Er blieb ruhig. »Die meisten meiner Leute sind dankbar, daß ich sie vor meiner Wahrheit beschü t ze.«
»Das behauptest du einfach. Ich habe bisher noch nichts von ihr gesehen.«
Doro erhob sich. Auch Anyanwu stand auf und sah ihn an. Ihr kleiner, vertrockneter Körper wurde vom Schatten des seinen völlig bedeckt. Sie war etwas mehr als halb so groß wie er, aber das machte ihr nichts aus. Sie war es g e wohnt, Menschen gegen ü berzustehen, die größer waren als sie. Sie zwang i h nen entweder ihren Willen mit Worten auf oder unterwarf sie sich mit ph y sischer Kraft. Sie hätte die Größe eines jeden Mannes annehmen können, doch sie zog es vor, die Leute durch ihre kleine Gestalt zu täuschen. Fremde hielten sie deswegen oft für harmlos, oder ein streitsüchtiger Wichtigtuer machte den Fehler, sie zu unte r schätzen.
Doro starrte auf sie nieder. »Manchmal wird man nur durch Schaden klug. Ein Kind muß sich verbrennen, bevor es sich vor dem Feuer in acht nimmt«, sagte er. »Komm mit mir zu einem deiner Dörfer, Anyanwu. Dort werde ich dir das ze i gen, was du glaubst, sehen zu müssen.«
»Was hast du vor?« fragte sie mißtrauisch.
»Ich lasse dich jemanden auswählen – einen Feind oder irgendein nutzloses Mitglied deines Volkes, das den and e ren nur im Wege steht. Diesen Menschen werde ich töten!«
»Töten!«
»Ich töte, Anyanwu. Das ist der einzige Weg, mir meine Jugend und Lebenskraft zu erhalten. Und es ist die einzige Möglichkeit, dir zu zeigen, wer ich bin. Ich töte einen Menschen und trage seinen Kö r per wie ein Kleid!« Er holte tief Luft. »Dies hier ist nicht der Körper, mit dem ich geb o ren wurde. Es ist auch nicht der zehnte, nicht der hunder t ste, nicht der tausendste, den ich angelegt habe. Deine Fähigke i ten scheinen sanfter Natur zu sein. Meine sind es nicht.«
»Du bist ein Geist«, schrie sie in panischem Entse t zen.
»Ich sagte dir schon, du seist ein Kind. Merkst du nicht, wie du dich selbst in Angst und Schr e cken versetzt?«
Er war wie ein Ogbanje, ein kindhafter Geistte u fel, den eine Frau immer neu gebar, damit er nach der Geburt wi e der starb und ihr Schmerzen und Qualen bereitete. Eine Frau, die von einem Ogbanje heimg e sucht wurde, konnte viele Male niederkommen und besaß doch weder Sohn noch Tochter. Aber dieser Doro war ein erwachsener Mann. Er konnte nicht in den Leib seiner Mutter zurüc k kehren, um aufs neue von ihr g e boren zu werden. Ihm lag nichts an dem Körper eines Neugeborenen. Er zog es vor, die Kö r per ausgewachsener Männer zu besitzen.
»Du bist ein Geist!« behauptete Anyanwu hartnäckig. Ihre Stimme klang schrill vor Angst, während ein Teil ihres Verstandes sich verwundert fragte, weshalb sie seinen Worten so selbs t verständlich glaubte. Sie selbst kannte eine ga n ze Menge Tricks. Lügen, die den Leuten das Blut in den Adern gefrieren ließen. Warum re a gierte sie jetzt wie der unwi s sendste Fremdling, den man zu ihr führte und der sie für das Orakel der Gottheit hielt. Warum glaubte sie ihm, und warum zitterte sie vor Angst? Es war ganz ei n fach. Sie hatte erkannt, daß dieser Mann noch viel ande r sartiger war als sie selbst. Dieser Mann war gar kein Mann.
Als er mit einer leichten Handbewegung unerwartet i h ren Arm berührte, schrie sie auf.
Er ließ einen Laut des Unwillens hören. »Frau, wenn du mit deinem Geschrei die Leute a n lockst, bleibt mir nichts anderes übrig, als einen von ihnen zu t ö ten.«
Sie erstarrte. Auch dies glaubte sie ihm. »Hast du schon jemanden getötet – auf deinem Weg
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