Wilde Saat
Mädchen Gesprächsfe t zen aufgefangen. Die Sklaven erzählten sich, daß ihr V a ter keine Kinder zeugen könne, und sie, Anya n wu, sei nicht nur die Tochter eines anderen Mannes, sondern eines durchzi e henden Fre m den. Als sie ihre Mutter danach fragte, hatte diese sie g e schlagen. Es war das erste und einzige Mal, daß ihre Mutter sie gestraft hatte. Von diesem Zeitpunkt an wu ß te Anyanwu, daß die G e schichten der Sklaven der Wahrheit entsprachen. Aber so sehr sie auch heimlich forschte, es war ihr nie gelungen, etwas über diesen Fremden zu erfahren. Später interessierte es sie nicht mehr, denn der Mann ihrer Mutter erkannte sie als seine Tochter an und war gut zu ihr. Dennoch fragte sie sich hin und wieder, ob die Menschen se i nes Volkes ihr ähnlich waren.
»Sind sie alle tot – meine Verwandten?« fragte sie Doro.
»Ja.«
»Dann waren sie nicht so wie ich.«
»Vielleicht wären sie nach vielen Generationen so g e worden. Du bist nicht nur ihr Nachkomme. Deine Onitsha-Verwandten galten auch nach den Vorstellungen ihres e i genen Volkes als ungewöhnlich und mit seltsamen Fähi g keiten au s gerüstet.«
Anyanwu nickte vor sich hin. Sie erinnerte sich an die seltsamen Dinge, die mit ihrer Mutter zusa m menhingen.
Obgleich die Gerüchte über sie nicht verstummten, b e saß sie Ansehen und Einfluß. Ihr Eh e mann war Mitglied eines hochgeachteten Sta m mes, der für seine magischen Kräfte und seher i schen Fähigkeiten berühmt war. Doch in ihrem Haus gab die Mutter den Ton an. Ihre prophetischen Trä u me erfüllten sich mit verblüffender Genauigkeit. Sie bereitete Arzneien, die Kran k heiten heilten und Unbill von den Menschen fernhielten. Auf dem Markt konnte es keine Händlerin mit ihr aufnehmen. Niemand verstand die Kunst des Feilschens so gut wie sie. Es schien so, als lese sie die geheimsten Gedanken in den Köpfen i h rer Kundinnen. Und im Laufe der Jahre wurde sie sehr wohlhabend.
Man erzählte, daß Angehörige des Stammes, zu dem Anyanwu durch den Mann ihrer Mutter gehörte, über die Gabe verfügten, ihre Gestalt zu verändern und nach Wunsch bestimmte Tie r formen anzunehmen. Anyanwu hatte nie etwas davon bemerkt. Die übe r sinnlichen Kräfte ihrer Mutter dagegen waren ihr nicht verborgen g e blieben, und es hatte sich zw i schen ihnen eine derart tiefe Bindung entwickelt, wie sie norm a lerweise bei Mutter und Tochter nicht möglich ist. Sie und ihre Mutter verband eine Gleic h förmigkeit des Denkens und Fühlens, die über das gewoh n te Maß weit hinausging, und sie waren beide bemüht, dies geheimzuhalten. Wenn Anyanwu Schmerzen hatte, spürte die Mutter ihre Qualen, mochte sie sich auch an einem noch so weit entfernten Ort aufhalten. Sie packte dann s o fort ihre Waren zusammen und eilte nach Hause. Zu ihren eigenen Kindern und ihren drei Männern hatte Anyanwu nie eine solch e n ge Beziehung gehabt. Und jahrelang hatte sie in ihrem eigenen Stamm, im Stamm ihrer Mutter und anderswo nach Menschen gesucht, die auch nur eine Spur jener Fähigkeit besaßen, die ihre, Anyanwus, Andersarti g keit am deutlichsten zum Ausdruck brachte: die Fähigkeit, ihre Gestalt zu wechseln. Auf der Suche danach waren ihr haarsträubende Geschichten zu Ohren geko m men, aber sie war nie auf jemanden gestoßen, der diese Fähigkeit tatsäc h lich besaß. Sollte sie etwa jetzt einem solchen Menschen begegnet sein? Sie blickte Doro an. Was empfand sie in seiner Nähe? Noch wußte sie nichts von ihm, und dennoch erinnerte sie etwas an ihm an ihre Mutter.
»Bist du ein Verwandter von mir?« fragte sie.
»Nein«, erwiderte er. »Aber deine Verwandten haben mir ihre Treue geschenkt. Und das ist nicht w e nig.«
»Ist das der Grund für dein Kommen – daß meine A n dersartigkeit dich anzog?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kam hierher, um herausz u finden, wer du bist.«
Sie runzelte die Stirn, plötzlich voller Argwohn. »Ich bin ich. Du siehst mich doch!«
»So, wie du mich siehst. Bildest du dir ein, alles sehen zu können?«
Sie antwortete nicht.
»Eine Lüge beleidigt mich, Anyanwu. Und was ich jetzt von dir sehe, ist eine Lüge. Zeig mir, wer du wirklich bist!«
»Du siehst, was du sehen willst.«
»Hast du Angst, es mir zu zeigen?«
»Nein.« Es war keine Angst in ihr. Aber was war es dann? Ein Leben lang hatte sie sich g e tarnt, hatte sich den Zwang auferlegt, ihre Fähigkeiten vor anderen zu verbe r gen. Was sie davon zeigte, waren nicht mehr als bloße Kunststücke und Tricks.
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