Wilde Saat
hierher?« flüsterte sie.
»Nein. Ich habe große Widrigkeiten auf mich geno m men, weil ich deinetwegen nicht töten wollte. Ich nahm an, du hättest Verwandte in dieser G e gend.«
»Ganze Generationen von Verwandten. Söhne und E n kel, sogar die Söhne dieser Enkel.«
»Ich wollte keinen von ihnen töten. Keinen deiner Sö h ne.«
»Warum nicht?« Anyanwu war erleichtert und neugierig zugleich. »Was können sie dir bede u ten?«
»Wie hättest du mich empfangen, wenn ich im Körper eines deiner Söhne oder Enkel zu dir gekommen wäre?«
Sie wich zurück. Entsetzt und gleichzeitig unf ä hig, sich unter dem Gesagten etwas vorstellen zu können.
»Begreifst du nicht? Deine Kinder dürfen nicht ei n fach umgebracht werden. Vielleicht sind sie brauc h bar für …« Er gebrauchte ein Wort in einer fremden Sprache. Sie hörte es klar und deutlich, doch es e r gab keinen Sinn. Das Wort war »Saatgut«.
»Was ist das, Saatgut?« fragte sie.
»Menschen, die zu wertvoll sind, um zufällig getötet zu werden.«
»Und welchen Wert besitzen meine Söhne für dich?«
Er maß sie mit einem langen, stummen Blick, dann sprach er mit ungewohnter Sanftheit: »Vielleicht muß ich zu ihnen gehen. Vielleicht üben sie eine noch größere A n ziehung auf mich aus als ihre Mu t ter.«
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals auf eine so sanfte und doch wirksame Weise bedroht worden zu sein. Ihre Söhne … »Komm«, flü s terte sie. »Hier möchte ich mich dir nicht ze i gen.«
Mit mühsam beherrschter Erregung folgte Doro der kle i nen, verhutzelten Gestalt zu ihrer Behausung. Die über sechs Fuß hohe Mauer aus rotem Lehm gab ihnen die Int i mität, die Anyanwu sich wünschte.
»Meine Söhne können dir nicht helfen«, sagte sie auf dem Weg durch den Garten. »Es sind gute Männer, aber sie wissen nur wenig.«
»Sind sie nicht wie du? Wenigstens einige von i h nen?«
»Nein.«
»Und deine Töchter?«
»Auch nicht. Ich habe sie genau beobachtet, bis zu dem Tag, an dem sie zu ihren Ehemännern gingen. Sie sind wie meine Mutter. Sie besitzen großen Ei n fluß auf ihre Männer und auf andere Frauen, aber darüber hinaus sind sie Mi t telmaß. Sie leben ihr L e ben, und sie sterben.«
»Sie sterben?«
Anyanwu öffnete das hölzerne Tor und führte ihn in den Hof. Dann verriegelte sie das Tor hi n ter ihm.
»Ja, sie sterben«, sagte sie traurig. »Wie ihre Väter.«
»Vielleicht hätten deine Söhne und Töchter einander heir a ten sollen …«
»Abscheulich«, unterbrach sie ihn voller Entsetzen. »Wir sind doch keine Tiere, Doro.«
Er zuckte die Schultern. Sein ganzes Leben lang hatte er solche Proteste mißachtet und die Protestierenden gezwu n gen, ihre Meinung zu ändern. Die Moral der Leute überle b te selten einmal die Auseinande r setzung mit ihm. Dieses Mal verzichtete er auf die Anwendung von G e walt. Diese Frau war wertvoll. Wenn sie nur halb so alt war, wie er vermutete, mü ß te sie der älteste Mensch sein, den er jemals getroffen hatte – und sie war immer noch voller Leben s kraft. Sie stammte von Menschen ab, deren ung e wöhnlich lange Lebensdauer, deren Widerstandskraft gegenüber Krankheiten und die weit über das No r male hinausgehende Veranlagung sie für ihn besonders wichtig machten. Me n schen, die – wie so viele andere – eine wil l kommene Beute für Sklavenhändler und feindl i che Stämme wurden. Ein Grund, we s halb sie nur noch ganz selten zu finden waren. Nichts durfte dieser einen Überlebenden, diesem ung e wöhnlichen Glücksfall der Gattung Mensch z u stoßen. Vor allem mußte sie beschützt werden vor ihm, Doro, selbst. Es durfte nicht geschehen, daß er sie tötete. Aus Zorn oder durch einen U n fall – und Unfälle passierten so leicht in diesem Land. Er mußte sie mitnehmen zu einem seiner Saatgut-Dörfer, wo sie vor diesen Gefahren sicher sein würde. Bei ihrer außergewöhnlichen Begabung war es vie l leicht mö g lich, daß sie sich wieder verjüngte und daß aus der Verbindung mit ihm Kinder entstanden, die ihrer wü r dig waren. Blieb sie unfruchtbar, gab es immer noch ihre bereits lebenden Kinder.
»Würdest du herschauen, Doro!« unterbrach sie seine Gedankengänge. »Dies ist es, was du sehen wol l test.«
Er wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu, und sie b e gann sich die Hände zu reiben. Ihre Hände waren wie Vogelkra l len, gekrümmt von der Gicht, dürr und knochig. Während er ihr zuschaute, begannen sie sich zu füllen, wurden fle i schig und glatt und
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