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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wahrscheinlich auch nichts dagegen tun können, wenn du sofort zu diesem Zeitpunkt aufgetaucht wärst. Selbst wenn ich mich entschlossen hätte, ins Tal zu gehen. Ich wäre garantiert wieder hergekommen. Das ist Schwäche, genau das.«
    »Was wollte das Schaf von dir?«
    »Alles. Es wollte mich mit Haut und Haar. Meinen Körper, mein Gedächtnis, meine Schwäche, meine Widersprüche … das Schaf ist ganz wild auf so was. Der Bastard hat tausend Fühler, steckt sie dir wie Strohhalme durch die Ohren, durch die Nasenlöcher und saugt dich aus. Der bloße Gedanke daran macht einen fertig, nicht wahr?«
    »Und die Gegenleistung?«
    »Etwas fast zu Großes, zu Prächtiges für einen wie mich. Nicht, dass das Schaf es mir in konkreter Form gezeigt hätte. Ich habe höchstens einen Bruchteil davon gesehen. Dennoch …«
    Ratte schwieg.
    »Dennoch, es reichte, mich ihm auszuliefern. Willenlos. Ich kann es nicht mit Worten beschreiben. Es ist wie ein Schmelztiegel, in dem alles zusammenläuft. Von betäubender Schönheit und dämonischer Schlechtigkeit. Du tauchst hinein, und alles verschwindet. Bewusstsein, Werte, Gefühle und Qualen – alles. Es ist von einer Dynamik und Energie wie jener eine Punkt im Universum, von dem einst alles Leben seinen Ursprung nahm.«
    »Und doch hast du dich widersetzen können.«
    »Ja, ich habe mich widersetzt. Es ist mit mir, in meinem Körper begraben. Noch eines bleibt zu tun, und es wird für alle Ewigkeit begraben sein.«
    »Noch eines? Was?«
    »Noch eines. Das wirst du für mich erledigen müssen. Aber davon später.«
    Wir tranken gleichzeitig Bier. Langsam wurde mir wärmer. »Der Tumor wirkt wie eine Peitsche, nicht wahr?«, fragte ich. »Eine Peitsche, mit der das Schaf seinen Wirt manipuliert.«
    »Ganz recht. Wenn der Tumor einmal da ist, gibt es kein Entkommen mehr.«
    »Welches Ziel hatte der Alte eigentlich?«
    »Der war verrückt. Er konnte garantiert den Blick in diesen Schmelztiegel nicht aushalten. Das Schaf hat ihn nur benutzt, um diese gigantische Machtmaschinerie aufzubauen. Es hat sich seines Körpers bemächtigt und dann ex und hopp. Intellektuell war der Mann eine Null.«
    »Und du warst der Nächste, nicht? Du solltest, wenn der Alte stirbt, für das Schaf die Machtmaschine weiterführen.«
    »Genau.«
    »Und dann? Worauf sollte das alles hinauslaufen?«
    »Auf ein Imperium der reinen Anarchie. Mit allen Gegensätzen in sich aufgehoben. Im Zentrum das Schaf und ich.«
    »Warum hast du dich widersetzt?«
    Die Zeit lag im Sterben. Und über die sterbende Zeit häufte sich geräuschlos Schnee.
    »Ich mag meine Schwäche. Ich mag meine Beschwerden und die Bitterkeit. Das Licht des Sommers, den Geruch des Windes, das Zirpen der Zikaden, ich mag das. Ich kann nicht anders, ich mag es. Ich mag, mit dir Bier zu trinken und …« Ratte verschluckte den Rest. »Ach, ich weiß nicht.«
    Ich suchte nach Worten. Aber mir fiel nichts Passendes ein. In die Decke gewickelt, starrte ich ins Dunkel.
    »Wir hatten beide das gleiche Material und haben doch jeder was völlig anderes daraus gemacht«, sagte Ratte. »Glaubst du, die Welt entwickelt sich zum Guten?«
    »Gut oder böse – wer kann das schon auseinander halten?«
    Ratte lachte. »Wenn es ein Königreich der Gemeinplätze gäbe, wärst du der König!«
    »Für Schafe Zutritt verboten.«
    »Für Schafe Zutritt verboten.« Ratte trank in einem Zug sein drittes Bier aus und stellte die Dose geräuschvoll auf dem Boden ab.
    »Sieh zu, dass du so früh wie möglich wieder ins Tal kommst. Bevor der Schnee alles versperrt. Es sei denn, du willst den ganzen Winter hier verbringen. Der Schnee kommt wahrscheinlich in vier, fünf Tagen, und über den vereisten Bergweg abzusteigen ist Knochenarbeit.«
    »Was wird aus dir?«
    Ratte lachte amüsiert. »Für mich gibt es kein ›Werden‹ mehr. Ich vergehe mit dem Winter. Wie lang er sein wird, weiß ich nicht. Aber ein Winter ist ein Winter. Ich bin froh, dass ich dich treffen konnte. Wenn mir auch ein wärmerer, hellerer Ort lieber gewesen wäre.«
    »Jay lässt dich schön grüßen.«
    »Grüß ihn bitte auch von mir, ja?«
    »Die Frau hab ich übrigens getroffen.«
    »Und?«
    »Es geht ihr gut. Arbeitet immer noch in derselben Firma.«
    »Sie hat also noch nicht geheiratet?«
    »Nein«, antwortete ich. »Sie wollte von dir wissen, ob es aus sei oder nicht.«
    »Es ist aus«, sagte Ratte. »Auch wenn ich’s nicht aus eigener Kraft hab beenden können, es ist jedenfalls aus. Mein

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