Wilde Schafsjagd
gepennt, was die wohl jetzt macht? Wär schon komisch, wenn ich sie mal zufällig auf der Straße treffen würde.
Es war einmal ein Mädchen, das mit jedem schlief.
So lautet ihr Name.
* * *
Genau genommen schlief sie natürlich nicht mit jedem. Sie hatte da ihre Prinzipien.
Trotzdem, objektiv und realistisch betrachtet, schlief sie mit so gut wie jedem .
Ein einziges Mal fragte ich sie nach diesen Prinzipien – aus reiner Neugierde. »Hmh …« Sie dachte etwa dreißig Sekunden nach. »Natürlich schlaf ich nicht mit jedem. Manchmal ist es mir auch zuwider. Aber ich will möglichst viele Leute kennen lernen. Um, ja, um für mich die Welt zu begreifen.«
»Indem du mit jemandem schläfst?«
»Ja.«
Diesmal war es an mir nachzudenken.
»Und – hast du sie dadurch ein bisschen begriffen?«
»Ein bisschen, ja«, sagte sie.
* * *
Vom Winter 1969 bis Sommer 1970 sah ich sie kaum. Die Uni war ständig zu – entweder wegen Studentenblockaden oder wegen Aussperrungen –, und ich hatte sowieso mit persönlichen Problemen genug zu tun.
Als ich im Herbst 1970 das Café wieder besuchte, waren ganz andere Leute da. Sie war so ziemlich das einzige bekannte Gesicht. Es lief immer noch Hardrock, aber das Knistern in der Atmosphäre war verschwunden. Nur sie und der schlechte Kaffee hatten sich in dem einen Jahr nicht verändert. Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Wir tranken Kaffee und redeten über die alte Clique.
Die meisten von ihnen hatten die Uni abgebrochen. Einer hatte sich umgebracht, ein anderer war spurlos verschwunden, und so weiter.
»Und was hast du das ganze Jahr gemacht?«, fragte sie mich.
»So dies und das«, sagte ich.
»Und, bist du ein bisschen klüger geworden?«
»Ein bisschen, ja.«
An diesem Abend schlief ich das erste Mal mit ihr.
* * *
Ihre Lebensgeschichte kenne ich nicht genau. Das, was ich weiß, habe ich irgendwo aufgeschnappt, vielleicht hat sie es mir auch selbst im Bett erzählt. Als sie in der 10. Klasse war, hatte sie einen Riesenkrach mit ihrem Vater und lief von zu Hause (und von der Schule) weg. Das war im Sommer. Ja, so war’s, glaube ich. Wo sie wohnte und wovon sie lebte, wusste niemand.
Sie saß den ganzen Tag auf ihrem Stuhl im Rock-Café, trank pausenlos Kaffee, rauchte eine Zigarette nach der anderen, blätterte die Seiten ihres Buches um und wartete, bis jemand auftauchte, der ihr den Kaffee und die Zigaretten bezahlte (und das war nicht gerade Kleingeld für uns damals). Mit dem schlief sie dann meistens.
Das ist alles, was ich über sie weiß.
Von jenem Herbst an bis zum darauf folgenden Frühling besuchte sie mich jeden Dienstagabend in meinem damaligen Zimmer in Mitaka, am Rande der Stadt. Sie aß mein einfaches Abendessen, füllte meine Aschenbecher und schlief mit mir, das Radio in voller Lautstärke auf Rock gestellt. Mittwochs morgens nach dem Aufstehen spazierten wir durch den Wald zum Campus der ICU und aßen dort in der Mensa zu Mittag. Nachmittags tranken wir in der Cafeteria dünnen Kaffee, und wenn das Wetter gut war, legten wir uns auf eine Wiese im Unigelände und schauten in den Himmel.
Sie nannte das »Mittwochspicknick«.
»Jedes Mal, wenn wir hierher kommen, fühle ich mich wie bei einem richtigen Picknick.«
»Picknick?«
»Ja, überall Gras, soweit man sehen kann, und die Menschen sehen so glücklich aus …«
Sie setzte sich auf und verbrauchte mehrere Streichhölzer, um ihre Zigarette anzuzünden.
»Die Sonne geht auf und unter, Leute kommen und gehen, die Zeit streicht vorbei wie ein Lufthauch. Wie bei einem Picknick eben.«
Damals war ich einundzwanzig und würde in ein paar Wochen zweiundzwanzig werden. Hatte keine Aussicht, in absehbarer Zukunft meinen Abschluss zu machen, aber auch keinen richtigen Grund, die Uni abzubrechen. Ich steckte in einer merkwürdig depressiven Phase und konnte mich einige Monate lang einfach nicht aufraffen, irgendetwas Neues anzufangen.
Die Welt nahm ihren Lauf, nur ich hatte mich festgefahren. Im Herbst 1970 sah alles irgendwie so traurig aus, als ob überall die Farbe ausliefe. Die Sonnenstrahlen, der Geruch des Grases, sogar das leise Nieseln des Regens – alles regte mich auf.
Ich träumte damals oft von einem Nachtzug. Es war immer der gleiche Traum: Ein Zug, in dem man kaum atmen kann vor Zigarettenqualm, Toilettengestank und menschlichen Ausdünstungen. So voll, dass man fast nicht stehen kann, an den Sitzen klebt Erbrochenes. Ich halte es nicht mehr aus, stehe auf
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