Wilde Schafsjagd
eine Zigarette an.
Dafür, dass ich ganze vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen hatte, war ich unwirklich wach. Mein Körper war zwar träge bis ins Mark, aber meine Gedanken trotteten wie dressierte Zirkustiere immer weiter ziellos durch die Irrgänge des Bewusstseins.
Während ich den leeren Stuhl anstarrte, fiel mir ein amerikanischer Roman ein, den ich vor etlichen Jahren gelesen hatte: Da ließ ein Mann, der von seiner Frau verlassen worden war, monatelang ihren Unterrock über dem Esszimmerstuhl ihm gegenüber hängen. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger absurd erschien es mir. Gar keine schlechte Idee. Nicht, dass ich irgendeinen Sinn darin gesehen hätte, aber es wäre bestimmt geistreicher, als den Topf mit der verwelkten Geranie stehen zu lassen. Und der Kater – es würde ihn vielleicht etwas beruhigen, wenn etwas von ihr da wäre.
Ich öffnete ihre Schubladen im Schlafzimmer, eine nach der anderen, doch alle waren leer. Ein von Motten angefressener alter Schal, drei Kleiderbügel und Mottenkugeln – das war das Einzige, was übrig geblieben war. Sie hatte alles fein säuberlich mitgenommen.
Das auf engstem Raum im Badezimmer untergebrachte Sammelsurium von Kosmetika, Lockenwicklern, Zahnbürste, Fön, Gott weiß was für Medikamenten, Tampons und Damenbinden, sämtliches Schuhwerk von Boots bis zu Sandalen und Hausschuhen, Hutschachteln, eine Schublade voll Accessoires, Hand- und Schultertaschen, Koffer, Portemonnaies, die immer sorgfältig geordnete Unterwäsche, Strümpfe, Briefe – von den Dingen, denen ihr Geruch anhaftete, hatte sie nicht ein einziges zurückgelassen. Mir war, als hätte sie sogar ihre Fingerabdrücke abgewischt. Ungefähr ein Drittel der Bücher und Schallplatten war ebenso verschwunden – die, die sie selbst gekauft oder die ich ihr geschenkt hatte.
Ich öffnete die Fotoalben: Sämtliche Aufnahmen von sich hatte sie entfernt. Bei den Bildern, auf denen wir beide zu sehen waren, hatte sie sich selbst sauber herausgeschnitten, sodass nur noch ich zurückblieb. Aufnahmen von mir alleine sowie Landschafts- und Tierfotos waren unberührt. Die drei Alben enthielten jetzt eine Bildersammlung perfekt retuschierter Vergangenheit: Immerzu ich allein, und dazwischen Berge und Flüsse und Rehe und Katzen. Mir war, als wäre ich von Geburt an mein ganzes Leben lang allein gewesen und würde auch von jetzt an immer allein bleiben. Ich klappte die Alben zu und rauchte zwei Zigaretten.
Sie hätte wenigstens einen Unterrock dalassen können! Aber das war selbstverständlich ihre Sache, ich durfte mich da nicht einmischen. Sie hatte sich entschlossen, nichts dazulassen, und ich musste mich danach richten. Oder ich musste mir, wie sie wohl beabsichtigte, einbilden, sie hätte von Anfang an nicht existiert. Und aufgrund ihrer Nicht-Existenz konnte auch ihr Unterrock nicht existieren.
Ich spülte den Aschenbecher aus, stellte Klimaanlage und Radio ab, und nachdem ich meine Gedanken noch einmal um ihren Unterrock hatte kreisen lassen, gab ich auf und ging ins Bett.
Schon ein Monat war vergangen, seit ich der Scheidung zugestimmt hatte und sie ausgezogen war. Ein Monat beinahe ohne jeden Sinn. Ein Monat wie laues Gelee, vage und substanzlos. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich irgendetwas verändert hätte, und es hatte sich auch nichts verändert.
Ich stand um sieben Uhr auf, schüttete Kaffee auf, toastete Toast, ging zur Arbeit, aß irgendwo zu Abend, trank zwei, drei Bier, ging nach Hause, las im Bett noch ungefähr eine Stunde, löschte das Licht, schlief. Samstags und sonntags machte ich, anstatt zur Arbeit zu gehen, von frühmorgens an meine Runden durch die Kinos, um die Zeit totzuschlagen. Danach ging ich wie immer allein zu Abend essen, trank etwas, las etwas, schlief. Ich verbrachte diesen Monat genau wie die Sorte von Menschen, die die Tage auf dem Kalender einen nach dem anderen schwarz ausstreichen.
In gewisser Weise empfand ich ihr Verschwinden als unvermeidlich. Was geschehen war, war geschehen. Es zählte nicht mehr, wie gut es in diesen vier Jahren zwischen uns gelaufen war. Genau wie bei den bereinigten Fotoalben.
Dass sie lange Zeit regelmäßig mit meinem Freund geschlafen hatte und eines Tages bei ihm eingezogen war, zählte ebenso wenig. So etwas ist immer möglich und geschieht tatsächlich oft genug, und dass es ihr passiert ist, empfand ich gar nicht als etwas Außergewöhnliches. Letzten Endes war das ihre Sache.
»Das ist letzten Endes deine
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