Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
mir gut.«
»Ist es Ihr Vater?« fragte der Botschafter zögernd. »Ich habe den Duke vor einigen Jahren kennengelernt. Eine höchst bemerkenswerte Persönlichkeit.«
»Nein. Nicht mein Vater.« Ross seufzte. »Mein Bruder - vielmehr mein Halbbruder -, der Marquess of Kilburn, starb letzten Monat ganz unerwartet.«
»Es tut mir leid. Ich kannte Lord Kilburn nicht, aber für Sie ist es sicher ein großer Verlust.«
»Kein persönlicher Verlust.« Ross starrte auf den Brief und empfand ein vages Bedauern, daß sein einziger Bruder ihm im Leben und nun im Tod praktisch ein Fremder geblieben war. »Kilburn war beträchtlich älter als ich, und wir standen uns nicht sehr nah.« Tatsächlich hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen, und nun, da er tot war, gab es auch keine Möglichkeit mehr, die Kluft jemals zu schließen, die Stolz und Zorn zwischen ihnen aufgerissen hatte. Kilburn hatte die zweite Ehe seines Vaters niemals gebilligt, was sich auch auf das Kind übertragen hatte, das daraus entsprang. Es hatte dem Duke of Windermere sehr viel Kummer bereitet, daß diese Ehe, die ihn selbst so glücklich machte, ihn gleichzeitig von seinem ältesten Sohn und Erben entfremdet hatte.
Der Botschafter musterte ihn plötzlich aufmerksam. »Ich bin mit Ihrer familiären Situation nicht vertraut. Hat Ihr Bruder einen Sohn hinterlassen?«
Genau da lag die Krux in der Sache. »Kilburn hat eine Tochter aus erster Ehe«, antwortete Ross. »Nachdem seine Frau vor ein paar Jahren gestorben ist, hat er wieder geheiratet, und seine zweite Frau trug ein Kind unter dem Herzen, als ich EngIand verließ. Es ist ein paar Tage nach Kilburns Tod auf die Welt gekommen - und unglücklicherweise ist es wieder ein Mädchen.«
»Also sind Sie jetzt der Marquess of Kilburn«, schloß Canning aus dieser Erklärung. Er räusperte sich. »Sie finden, daß das ein Unglück ist? Verzeihen Sie mir, Lord Kilburn, aber die meisten Menschen wären sicher nicht besonders traurig, ein Herzogtum zu erben. Es ist wohl kaum Ihr Fehler, daß Ihr Bruder keine Söhne gezeugt hat, die sein Erbe übernehmen können.«
»Ich hatte nie den Ehrgeiz, Duke of Windermere zu werden.«
Ross versuchte, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß er nun den Titel seines Bruders trug. »Das Erbe anzutreten, bedeutet vor allem, daß die Zeit meiner Reisen vorbei ist. Meine Eltern wollen, daß ich sofort nach EngIand zurückkehre, denn mein Vater kann es sich nicht leisten, auch noch seinen zweiten Sohn zu verlieren. Im übrigen gibt es eine Menge familiärer Angelegenheiten, die erledigt werden müssen.«
Canning nickte bedächtig. »Ich verstehe. Es tut mir leid für Sie. Ich hoffe nur, Sie können sich wenigstens damit trösten, daß Sie bereits viele Länder gesehen haben, von denen andere Männer nur träumen können.«
»Ja, ich weiß.« Ross bemühte sich, seine durcheinandergeratenen Gefühle zu sortieren. »Ich habe in meinem Leben sehr viel Freiheit und viele Privilegien genossen. Nun wird mir die Rechnung dafür präsentiert, und ich werde wohl den Preis zahlen müssen, den diese Privilegien mit sich ziehen.«
In diesem Moment wurde der Tee gebracht, und die nächste halbe Stunde plauderten sie über weniger persönliche Dinge.
Als Ross sich schließlich erhob und zum Gehen wandte, sagte der Botschafter: »Ich hoffe doch, daß Sie mit uns essen, bevor Sie Konstantinopel wieder verlassen. Lady Canning legt großen Wert darauf, Sie kennenzulernen.« Er stand ebenfalls auf, um seinen Besucher zur Tür zu geleiten. »Vielleicht morgen abend?«
»Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Die beiden Männer hatten das Arbeitszimmer verlassen und schon fast die Eingangshalle erreicht, als ein weiterer Besucher angekündigt wurde. Canning murmelte eine leichte Verwünschung, doch als er den Neuankömmling sah, glätteten sich seine Gesichtszüge schnell zu diplomatischer Freundlichkeit. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Lord Ross. Es wird nicht lange dauern.«
Ross blieb in der schattigen Halle zurück. Im nächsten Moment erstarrte er beim Anblick der schIanken Europäerin mit dem kastanienbraunen Haar, die soeben angekommen war. Doch sein Erschrecken war fast genauso schnell überwunden, wie es ihn überfallen hatte. Das rötlichbraune Haar war mit silbrigen Strähnen durchzogen, und das attraktive, ernsthafte Gesicht der Frau war durch ein gutes halbes Jahrhundert Lebensjahre gezeichnet. Er kannte diese Frau, und ihre Anwesenheit hier war
Weitere Kostenlose Bücher