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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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nicht abschrecken. Es ist
Ihr
Leben, nicht das der anderen.«
    Die junge Frau riss die Augen auf. Dann lächelte sie verwirrt, sagte danke und verschwand. Aus purer Gewohnheit hatte Coco diesen Rat erteilt. Nicht immer war man darauf erpicht, sich in die Zukunft schauen, seinem Glück auf die Sprünge helfen zu lassen. Aber Coco konnte nicht anders. Wenn sie eine Eingebung hatte – insbesondere bei einer schwierigen Entscheidung –, sah sie die Lösung deutlicher als der, der im Dilemma steckte. Allerdings kam es gelegentlich vor, dass sie statt zu helfen alles nur noch schlimmer machte.
    Vorsichtig packte sie ihre Sachen aus, traf Vorbereitungen für das »besondere« Kästchen – das eigenartig geformte, maßgefertigte Kästchen, in dem sich das Kostbarste befand, was sie besaß –, räumte BHs und Slips ein, hängte die Kleider auf, verstaute die Schuhe im Schrank, trug Toilettenartikel und Kosmetika ins Bad, brachte alles dort unter, wo es hingehörte, um die Voraussetzungen zu schaffen, sich mit dem Inhalt des besonderen Kästchens zu befassen.
    Endlich war sie so weit, um den Verschluss an der Tasche zu
öffnen und das würfelförmige Samtkästchen herauszunehmen. Sie stellte es auf den Frisiertisch, nahm den Deckel ab, und zum Vorschein kam das wichtigste Utensil für die Ausübung ihres Berufs.
    »Womit verdienen Sie sich Ihr Geld?«, wurde sie immer wieder gefragt – von Männern auf Partys, von Frauen im Club, in dem Karten gespielt wurde, von der Kassiererin im Supermarkt.
    Eine ehrliche Antwort darauf gab Coco schon seit Jahren nicht mehr.
    Und erst recht nicht ließ sie irgendjemandem gegenüber ein Sterbenswörtchen über die Kristallkugel verlauten.
    Jetzt ging sie erst einmal ins Badezimmer, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu benetzen und die Spuren von der Reise und dem Alkohol zu beseitigen. Sie fuhr sich mit den langen Acrylfingernägeln durch das burgunderrot gefärbte Haar, bauschte es auf, besserte ihr Make-up aus (man wusste ja nie, wer da an der Tür auftauchen könnte) und beschloss, ihre Reisekleidung abzulegen und einen bequemen knöchellangen Rock und eine Folklorebluse anzuziehen.
    Nachdem sie sich ein Glas eisgekühltes Evian eingeschenkt hatte, war sie bereit.
    Behutsam griff sie mit beiden Händen nach der Kristallkugel, trug sie zum Sofa und setzte sie auf dem Couchtisch ab. Welch smaragd- und türkisgrünes Funkeln! Aber bevor sich Coco näher mit der Funken sprühenden Kugel befasste, öffnete sie die Schiebetür zu ihrem privaten Patio, um die Wüstenbrise und den einsamen Lockruf eines Nachtvogels einzulassen. Erst dann atmete sie tief durch, schloss die Augen, summte ein beruhigendes Mantra und spürte, wie sich ihr Körper entspannte. Sie öffnete die Augen wieder und breitete die Hände über der Kugel aus. Während aus dem Garten der Duft von wildem Oleander hereinwehte, die Vorhänge sich
bauschten und der Ruf eines Seetauchers die Stille zerschnitt, richtete Coco den Blick in das Herz des Kristalls.
    Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte sie sich nicht mit derlei Dingen beschäftigen. »Deine Begabung dient dazu, anderen zu helfen, nicht dir selbst«, hatte ihre Mutter sie immer wieder ermahnt und hinzugefügt, wenn Coco ihre hellseherischen Fähigkeiten für eigennützige Zwecke verwende, öffne sie dem Unheil Tür und Tor. Aber Coco konnte nicht davon ablassen. Sie war verzweifelt. All die Jahre mit in die Brüche gegangenen Beziehungen, One-Night-Stands, die zu nichts geführt hatten, Männer, die sie wegen ihrer besonderen Fähigkeiten mit Skepsis betrachteten. Coco war nach The Grove gekommen, um einen Mann zu finden.
    Nicht irgendeinen Mann. Den Mann. Ihre Seelenergänzung. Ihren Romeo, ihren Marcus Antonius, dem auf ewig in tiefer Liebe und Leidenschaft verbunden zu sein ihr das Schicksal bestimmt hatte.
    Zunächst aber galt es herauszufinden, wer das war.

Kapitel 2
    Im Schutze üppiger Bananenstauden und Farngewächse verfolgte die Hausherrin von The Grove gespannt die Ankunft der Passagiere, zu deren Begrüßung sich persönliche Betreuer und Betreuerinnen bereit hielten. Das tat sie nur in Ausnahmefällen – und heute Abend war ein solcher.
    Abby Tyler beobachtete, wie die Propeller der Maschine langsamer rotierten und schließlich zum Stillstand kamen, wie sich die Tür öffnete, eine Treppe ausgefahren wurde. Mit angehaltenem Atem sah sie den ersten Gast in den Wüstenabend hinaustreten: einen Mann, dem eine Firma gehörte, die

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