Wilder Oleander
entsetzt über sich selbst und doch unfähig, einfach wegzugehen, das Treiben der beiden im Geiste vor sich sah. In je kürzerem Abstand die Liege knarrte, desto höher stieg Sissys Pulsfrequenz. Sie legte die Hand auf die Brust und spürte ihr Herz hämmern, derweil die beiden im angrenzenden Garten auf Teufel komm raus miteinander vögelten.
Schließlich stieß die Frau einen Schrei aus und der Mann gab ein ersticktes Grunzen von sich. Gleich darauf lachten sie und einer der beiden sagte: »Eine Frau, nebenan«, worauf Sissy mit hochroten Wangen die Flucht ergriff.
Völlig durcheinander verzog sie sich ins Haus, griff sich noch rasch den Teewagen, schloss, wie um ihren Fauxpas zu vertuschen, die gläserne Schiebetür. In einen fremden Garten einzudringen war etwas, was die auf Anstand und Höflichkeit
bedachte Sissy Whitboro aus Rockford, Illinois, nie tun würde. Und sie hatte bislang noch nie gesehen, wie zwei »es miteinander trieben«. Nicht im wirklichen Leben.
Allmählich beruhigte sie sich und wollte gerade mit ihrem Rührei und Toast anfangen (nicht ohne verschämt daran zu denken, dass sich der Mann nebenan im Vergleich zu Ed weitaus mehr Zeit genommen hatte), als sie zwischen den silbernen Streuern für Salz und Pfeffer einen Umschlag entdeckte. Wahrscheinlich eine Einladung.
Auf blassrosa und gebrochenem Weiß stand auf der Außenseite der eingelegten Karte
Phantasievolle Begegnungen
. Sissy klappte die Karte auf und überflog sie mit wachsendem Erstaunen.
»Leben Sie Ihre ureigenen Träume in einer unserer mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Räumlichkeiten aus: im Schlossturm, im Spanischen Salon, im Robert E. Lee Salon … Werden Sie zu Antonius und Cleopatra oder Robin Hood und Lady Marian … Eine große Auswahl an Kostümen und speziellen Accessoires steht Ihnen zur Verfügung … Phantasievolle männliche und weibliche Mitspieler … Absolute Diskretion, ungestörtes Zusammensein.«
Sissy war entgeistert. Erst ihre Nachbarn und jetzt dies. Wohin war sie nur geraten?
Am Abend zuvor, als sie in diesem entzückenden kleinen Häuschen, das in leuchtendem Orange, Purpur und Gelb gehalten war und sich so zutreffend Paradiesvogel-Häuschen nannte, ihre Sachen ausgepackt hatte, war die Geschäftsführerin von The Grove, Ms. Vanessa Nichols, vorbeigekommen. Sie hatte Sissy willkommen geheißen und ihr für morgen, also heute, die Einladung für ein privates kleines Mittagessen mit der Eigentümerin von The Grove, Ms. Abby Tyler, überbracht. Ms. Nichols hatte ferner betont, dass sämtliche Ausgaben während des einwöchigen Aufenthalts übernommen würden; Mrs.Whitboro möge doch bitte von allen Angeboten
Gebrauch machen. Sissy jedoch hatte keineswegs die Absicht, die dubiosen Dienstleistungen des Resorts in Anspruch zu nehmen – phantasievolle Mitspieler!-, sondern war nur aus einem Grund hergekommen. Das hatte sie Ms. Nichols natürlich nicht gesagt, sondern nur noch gefragt, wie es möglich sein konnte, dass ihr der Gewinn eines Preisausschreibens zugefallen war, an dem sie ihres Wissens gar nicht teilgenommen hatte.
»Das machen wir hin und wieder«, hatte Ms. Nichols lapidar geantwortet.
Was immer dahinter steckte – Sissy war entschlossen, das, was ihr da in den Schoß gefallen war, auszukosten. Und die Gelegenheit wahrzunehmen, fernab von fordernden Kindern, einem anspruchsvollen Ehemann und den vielen Komitees und Clubs, denen sie angehörte, das Familienalbum zusammenzustellen – ein Projekt, das sie schon viel zu lange vor sich herschob.
Jetzt, an diesem schönen Montagmorgen und während die Sonne durch hauchzarte Vorhänge drang und auf die Reste ihres Frühstücks fiel, machte sie sich daran, die noch in ihrem Koffer verbliebenen Schätze auszupacken.
Ihrem Projekt hatte sie einen eigenen Koffer zugedacht. Sie war in Eds Arbeitszimmer gegangen und hatte aus dem Schrank, in den alles hineingestopft wurde, womit man sich »irgendwann mal« näher befassen wollte, Schachteln herausgeholt, Umschläge und Tüten voller Fotos, Souvenirs und Erinnerungen, und dann im Koffer verstaut, was sie während der Urlaubswoche zu sortieren, zu ordnen und zusammenzustellen gedachte.
Die Fotos und Erinnerungen erstreckten sich über fünfzehn Jahre und spiegelten ein gutes Leben wider. Ein erfülltes Leben.
Ed hatte Karriere gemacht, war Geschäftsführer einer Fabrik,
die Werkzeuge für Maschinen herstellte. Mit mehr als tausend Angestellten war er in der Stadt ein angesehener Mann. Ein
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