Wilder Oleander
lang hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen würde, immer wieder, hatte sich alles aufgeschrieben und vorgebetet, jedesmal mit kleinen Veränderungen, mit verschiedenen Anfängen und Schlüssen – »Dein Vater war ein kaltblütiger Mörder« –, um Ausgewogenheit zwischen Wahrheit und
verletzten Gefühlen bemüht – »Dein Vater sah blendend aus und war ein toller Kerl.« »Ich war mit deinem Vater nur ein paar Wochen zusammen. Ich hab mit ihm geschlafen, ohne je seinen Namen zu erfahren.« Schließlich sagte sie: »Ich habe ihn sehr geliebt«, was auch stimmte.
Francesca wandte das Gesicht dem Wind zu. Die Luft war klar, der Himmel blau, der Sturm hatte sich gelegt. »Unfassbar, dass mein Vater Babys gestohlen haben soll. Aber andererseits war er ja gar nicht mein Vater.« Mit einem Mal wurde ihr so manches klar. Da waren die Gerüchte, die immer wieder herumgegeistert waren, Schmähungen, die sie sich von Mitschülern hatte gefallen lassen müssen … ihr Vater ein Gangster …
Ihr ganzes bisheriges Leben war eine Lüge gewesen. Alles hatte man ihr genommen. Und, Wunder o Wunder, durch ein neues Leben ersetzt. Als ob in dem Moment, da sich eine Tür schloss, eine andere aufgegangen wäre.
Diese Frau … diese starke und mutige Frau … ihre Mutter.
Und dann lagen sie sich auf einmal in den Armen, hielt Abby ihre Tochter endlich an sich gedrückt, spürte Francesca endlich die Liebe und Wärme einer Mutter, die sie nie gekannt hatte. Sie weinten zusammen und lachten und richteten sich auf, um sich gegenseitig über das Haar zu streichen, die Züge der anderen zu betrachten. Es flossen Tränen, bis Francesca schließlich zusammensackte und schluchzend die Hände vor das Gesicht schlug. »Daddy ist tot.« Abby hielt sie in ihren Armen und tröstete sie im sanften Wind der Wüste.
»Francesca!«
Ein Maserati jagte auf die Gruppe zu, und der Fahrer winkte heftig, während er staubaufwirbelnd bremste.
»Stephen!«
Francesca rannte ihm entgegen. Die beiden umarmten sich stürmisch. »Francesca, Gott sei Dank ist dir weiter nichts passiert!
Ich wusste dich in diesem Sturm und wollte so schnell wie möglich hier sein, wurde aber durch das Unwetter aufgehalten. Mein Gott, ich war verrückt vor Sorge!« Er küsste sie voller Inbrunst, drückte sie fest an sich, besah sich dann den Verband um ihre Stirn.
»Alles in Ordnung mit mir. Stephen, warum bist du gekommen?«
Hastig und in abgehackten Sätzen berichtete er von einem Brief, den seine Eltern von ihrem Vater erhalten hatten. Fallon drohte ihnen, etwas aus ihrer Vergangenheit publik zu machen, wenn sie die Hochzeit platzen ließen. »Francesca, mir ist es egal, was meine Eltern denken. Ich werde dich heiraten, ob mit oder ohne ihre Einwilligung.« Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Damals, im College, wurde ich mal verhaftet, weil ich mit Drogen gehandelt hatte. Keine große Sache, ein bisschen Marihuana, aber es kam immerhin in meine Akte. Und meine Eltern, auf Moral und Anstand bedacht, wie sie nun mal sind, meinten, wenn das bekannt würde, wäre diese Schande für sie unerträglich. Dein Vater dagegen befürchtete, meine Mutter würde alle Register ziehen, um mir die Heirat auszureden … «
Seine Verlobte verschloss ihm den Mund mit einem Kuss. Eng umschlungen verharrten sie unbeweglich in der wärmenden Wüstensonne, und Francesca dachte an die schrecklichen Stunden, in denen sie in den unterirdischen Gängen gefangen gewesen waren, und dass ihre größte Angst dabei gewesen war, Stephen nicht mehr wiederzusehen. Nicht, dass ihre Zweifel, ob sie Stephen liebte oder nicht, von jetzt auf gleich verschwunden gewesen wären. Aber zumindest wusste sie jetzt, dass das, was sie für Stephen empfand, ehrlich war und nicht von ihrem »Vater« beeinflusst. Und noch etwas: Die Angst, wie ihre »Mutter« im Wochenbett zu sterben, war verflogen.
Jack nahm Abby bei der Hand und führte sie von den anderen weg. Leise sagte er zu Abby: »Ich will weiter nach Ninas leiblichen Eltern suchen. Und wenn ich sie finden sollte und Nina tatsächlich geraubt worden ist, dann werde ich ihnen ganz genau erzählen, was für ein wunderbarer Mensch Nina war, und ihnen auch damit einen Abschluss ermöglichen.«
Dann holte er den Prospekt vom Weingut Crystal Creek heraus. »Charles Darwin zufolge sind es weder die Stärksten noch die Intelligentesten, die überleben, sondern die Anpassungsfähigsten. Damals, als Nina starb, bin auch ich gestorben, habe gar nicht
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