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Wildhexe 1 - Die Feuerprobe

Wildhexe 1 - Die Feuerprobe

Titel: Wildhexe 1 - Die Feuerprobe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lene Kaaberbol
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den Isa mir gezeigt hatte. Anders als im Wald wimmelte es hier nicht von Leben. Hier gab es keine Käfer und Regenwürmer, keine Vögel und Ameisen. Hier gab es nur die Wilden Wege, Chimära und mich. Ich konnte sie ganz deutlich spüren, eine Mischung aus Kälte und Wärme, ein seltsamer roter Regenbogen und der Geruch von nassen Federn und Blut.
    »Hau ab«, flüsterte ich.
    Sie blieb wirklich einen Moment stehen. Aber dann machte sie einen Schritt auf mich zu.
    »Was?«, sagte sie. »Was machst du da, Hexenkind?«
    Da schrie ich. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schrie, so laut ich konnte, schrie auf dieselbe Weise, die den ganzen Wald dazu gebracht hatte, Hals über Kopf davonzustürzen.
    HAU ENDLICH AB.
    Auch sie stieß einen Schrei aus. Einen gellenden Wutschrei, dünn und durchdringend wie der eines Raubvogels. Sie schlug mit den Flügeln und traf mein Gesicht, sodass ich für einen kurzen Augenblick wie geblendet war. Aber ich musste nichts sehen, um schreien zu können.
    HAUENDLICHABHAUENDLICHABHAUENDLICHAB
    »Viridians Blut!«, zischte sie. Nein, es war mehr als ein Zischen – sie spuckte die Worte aus, als wären sie ein Fluch. Sie wich zurück, Schritt für Schritt. Schließlich konnte sie es offenbar nicht länger ertragen, in meiner Nähe zu sein. Sie zerrte ein letztes Mal an der Kette, so fest, dass ich Angst hatte, sie würde mir den Kopf abreißen, aber da auch das mich nicht stoppen konnte, ließ sie die Kette fallen, als wäre sie glühend heiß.
    »Ich komme zurück …«
    Die Worte hingen einsam in der Luft. Chimära war nicht mehr da.
    Ich rief noch lange HAUAB, obwohl ich wusste , dass sie weg war, noch lange nachdem ich spürte, dass ich alleine war. Alleine im Nebel der Wilden Wege. Erst als ich ganz sicher war, dass nicht das geringste bisschen Blutgeruch oder roter Regenbogen mehr in der Nähe war, hörte ich auf.
    Mein Hals schmerzte innen wie außen. Meine Hände fühlten sich kalt und tot an. Mein verletztes Bein wollte mich kaum mehr tragen. Aber das war nicht das Schlimmste.
    Das Schwierigste an den Wilden Wegen ist, sich auf ihnen zurechtzufinden .
    Das hatte Tante Isa gesagt. Und das glaubte ich ihr. Der Nebel hatte Chimära verschluckt und sich wie ein Sack um mich geschlossen. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen musste. Es gab keine Richtung.
    Wie um alles in der Welt sollte ich also nach Hause finden?

12  KATZENSCHNURREN

    Denk nach, Clara.«
    Ich sagte es langsam und laut zu mir selbst, denn es war wichtig. Es war eindeutig keine gute Idee, einfach loszumarschieren, ohne zu wissen, wohin. Mein Knie tat wahnsinnig weh, und ich wusste nicht, wie viele Schritte ich noch machen konnte, ehe mein Bein sich weigern würde, mich zu tragen.
    Zu Hause – also zu Hause in der normalen Welt, wo ich bis vor ein paar Wochen gewohnt hatte –, da hatten Mama und ich die Vereinbarung, dass ich sie einfach nur anrufen musste, falls etwas passierte, das ich nicht überblicken konnte, dann würde sie kommen und mich abholen. Aber hier gab es kein Handy und auch keine liebe Mama.
    Was gab es hier überhaupt außer Nebel?
    Es gab Stille. Das Einzige, was ich hören konnte, war ein ganz leises Rauschen, das ebenso gut das Blut in meinen Ohren sein konnte. Und abgesehen von meinem eigenen Geruch nach Schweiß und Angst gab es um mich herum auch keinen Geruch. Es war weder warm noch kalt, weder trocken noch feucht. Es war nichts.
    Das erinnerte mich an etwas.
    Mir fiel wieder ein, wie Tante Isa mich aufgefordert hatte, die Augen zu schließen und mir die Nase zuzudrücken, während sie mir gleichzeitig die Ohren zuhielt. Wie sie mir nach und nach alle meine Sinne genommen hatte, bis nur noch der Wildsinn übrig geblieben war.
    Er war das Einzige, was ich jetzt noch hatte.
    Vermutlich hätte ich nicht mal die Augen schließen müssen, aber ich tat es trotzdem. Ich stand ganz still in den Wildnebeln und versuchte zu lauschen. Irgendwo in dieser Wüste musste doch etwas Lebendiges sein – also etwas anderes als Chimära.
    Ich streckte mich, so weit ich konnte, streckte den Wildsinn in den Nebel aus, tastete und suchte … Hätte es irgendetwas anderes gegeben, das ich hätte tun können, ich hätte bestimmt aufgegeben. Aber es gab keinen Plan B. Also machte ich weiter, obwohl ich vor Erschöpfung schwankte und die Tränen mir in warmen Rinnsalen über das Gesicht liefen. Ich machte weiter. Und dann …
    Hier .
    Ganz, ganz leise. Eine kleine Wärme, eine kleine ferne

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