Wilhelm II
eingefleischten Kriegshetzer darzustellen. Ohne weiteres kann man unzählige Zitate finden, die Willibald Gutsches Auffassung untermauern, dass der Kaiser »seit der Jahreswende 1913/14 nur noch auf eine günstige Gelegenheit [wartete], den Krieg in der von militärischer und ziviler Führung vorgesehenen Form, nämlich als Defensivkrieg getarnt, […] zu beginnen«. 41 Gutsche zitiert etliche schriftliche und mündliche Äußerungen Wilhelms aus den letzten zwölf Monaten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die anscheinend seine These belegen: 1. Im Dezember 1913 belastete die Ernennung des deutschen Generals Otto Liman von Sanders zum Kommandeur des türkischen
Ersten Heereskorps in Konstantinopel die deutsch-russischen Beziehungen. Nachdem Wilhelm einen Bericht zu dem Thema gelesen hatte, erklärte er in einer Randnotiz: »Es handelt sich um unser Ansehen in der Welt, gegen das von allen Seiten gehetzt wird! Also Nacken steif und Hand ans Schwert!« 42 2. Auf einen Bericht vom 11. März von Botschafter Graf Friedrich von Pourtalès in St. Petersburg schrieb Wilhelm: »Als Militair hege ich nach allen Meinen Nachrichten nicht den allergeringsten Zweifel, dass Russland den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet; und danach führe ich meine Politik.« 43 (Gutsche wertet diese Äußerung als Beweis, dass Wilhelm zu diesem Zeitpunkt bereits das Programm eines Präventivkriegs, das der Generalstabschef Moltke verfocht, voll verinnerlicht hatte.) 3. Am 11. Juni 1914 erklärte Wilhelm angeblich bei einem Besuch Franz Ferdinands in dessen Palast in Konopischte bei Prag, wenn die Österreicher »nicht [gegen Serbien] losgingen, würde sich die Lage verschlimmern.« 44 4. In einem viel zitierten Gespräch mit dem Hamburger Bankier Max Warburg am 21. Juni 1914 stellte Wilhelm dem Vernehmen nach die Frage, »ob es nicht besser wäre, loszuschlagen, anstatt zu warten«. 45
Solche Puzzleteile lassen sich ohne weiteres zu einer programmatischen Aussage zusammenfügen, die anscheinend keinen Zweifel an den kriegerischen Absichten des Kaisers aufkommen lässt. Aber sie stellen uns auch vor methodische Schwierigkeiten: Da ist zum einen das Problem, dass man sorgfältig unterscheiden muss zwischen spontanen Meinungsäußerungen und programmatischen Stellungnahmen, die sich unmittelbar auf die politische Linie auswirken können. Kann eine ärgerliche oder allzu streng formulierte Randnotiz als Beitrag gewertet werden, der die Politik unmittelbar beeinflusste? In Anbetracht des Ablaufs der außenpolitischen Entscheidungsprozesse in der wilhelminischen Ära erscheint dies, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, äußerst zweifelhaft; dasselbe gilt erst recht für Äußerungen bei einem Festmahl. In vielen Fällen spürt man geradezu das Missverhältnis zwischen der Sorglosigkeit, mit der Wilhelm die
Äußerungen von sich gab, und der Ernsthaftigkeit, mit der sie von Historikern zitiert werden.
Ein weiteres und viel grundlegenderes Problem ist der Kontext. Denn erst der Kontext verleiht einem Sprechakt eine bestimmte Bedeutung und macht die zugehörige Motivation begreiflich. Wie wichtig dieser Vorbehalt ist, wird deutlich, wenn man die oben zitierten Bemerkungen genauer betrachtet: Im ersten Fall geht aus dem Kontext des Dokuments hervor, dass die an den Rand gekritzelte Floskel eine kriegerische Metapher ist, keine buchstäbliche Aufforderung, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Sie bezieht sich auf die Notwendigkeit, angesichts der russischen Proteste standhaft zu bleiben; und sie enthält keinen Hinweis – weder implizit noch explizit – auf militärische Komplikationen, und das wäre mit Blick auf die in dem Dokument angesprochenen Themen auch völlig unangemessen gewesen. 46 Jedenfalls schlug Wilhelm nur fünf Tage danach, in seinem Kommentar zu einem weiteren Bericht des Botschafters in Konstantinopel, einen viel versöhnlicheren Ton an: »Man solle sich Russ[ischer] Seits [sic!] gedulden, wir würden schon allmählich dafür sorgen, dass Russ[ische] Besorgnisse zerstreut, und erfüllbare, mit dem Prestige der Türkei vereinbare Wünsche Russlands, seitens der Türkei berücksichtigt würden.« 47
Und die unter 2. dokumentierte Äußerung bekundet wohl kaum eine Entscheidung für einen Präventivkrieg, auch wenn sie veranschaulicht, wie alarmiert Wilhelm über Berichte war, die das Ausmaß und die antideutsche Ausrichtung der aktuellen, russischen Aufrüstung betreffen. Darüber hinaus spricht aus ihnen seine
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