Wilhelm II
so hatte das vermutlich weniger mit der Vorrangstellung des Militärs über die zivile Gewalt zu tun, als mit Wilhelms Eindruck, dass die beiden Männer einen schwerwiegenden Fehler begangen hatten, weil sie so felsenfest an der Ansicht festhielten, dass Großbritannien in einem kontinentalen Konflikt neutral bleiben würde. 33
Der »Kriegsrat« vom 8. Dezember blieb eine Episode: Anfang Januar war die Krisenstimmung in Berlin bereits verflogen, und Wilhelm hatte seine Ruhe wiedergefunden. Bethmann Hollweg redete ihm Pläne für ein aufgestocktes Flottenprogramm aus, und als im April/Mai 1913 auf dem Balkan eine neue Krise ausbrach, weil die Serben die albanische Stadt Skutari besetzten, wurde deutlich, dass Wilhelm weiterhin sämtliche Schritte ablehnte, die einen Krieg auslösen könnten. 34 Die Vorrangstellung der zivilen vor der militärischen Führung blieb noch bestehen; Moltkes wiederholte Aufrufe zu einem Präventivkrieg stießen auf taube Ohren. Dieser Zustand blieb dem streitbaren General Erich von Falkenhayn nicht verborgen, der in einem Brief vom Januar 1913 beobachtete, dass die politische Führung – auch Wilhelm
selbst – aufgrund eines irrigen Glaubens an die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens Moltke in seinem »Kampf« mit dem Kaiser um eine aggressivere Außenpolitik »allein« lasse. 35 Nach dem Schock vom Dezember bewertete Wilhelm die Chancen auf eine langfristige Einigung mit Großbritannien ambivalent und zunehmend pessimistisch, aber er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Aus seinen Äußerungen im Jahr 1913 geht hervor, dass er einen englisch-deutschen Krieg immer noch für »undenkbar« hielt. Außerdem vertraute er weiterhin darauf, dass die militärische Stärke Deutschlands Russland von einer bewaffneten Intervention in einem Konflikt zwischen Österreich und Serbien abschrecken würde. 36
Wilhelm, ein Kriegshetzer?
Im Herbst 1913 war die serbische Frage dringender als je zuvor. Im Juni 1913 war erneut ein Krieg auf dem Balkan ausgebrochen; der Konflikt endete mit dem Frieden von Bukarest vom 10. August 1913, der dem serbischen Königreich beachtliche neue Territorien zuschlug, aber auch die Unabhängigkeit Albaniens bestätigte. Die Lage blieb extrem angespannt, vor allen Dingen weil die Serben unbedingt mehr wollten, als man ihnen bereits zugestanden hatte. Als in Albanien ein Aufstand ausbrach, marschierten serbische Truppen ein, um ihn niederzuschlagen, und schon bald zeigte sich, dass ein weiterer Vorstoß Serbiens nach Albanien und an die Adria drohte. Am 18. Oktober forderten die Österreicher in einem Ultimatum den Abzug aller serbischen Truppen aus Albanien.
Wie reagierte Wilhelm auf diese neue Balkankrise? Er begrüßte das Ultimatum und stellte in einer Randbemerkung fest: »Es muss mal da unten Ordnung und Ruhe geschafft werden.« Darüber hinaus äußerte er die Hoffnung, dass die Serben, wenn sie die gestellten Bedingungen nicht erfüllten, womöglich einen geeigneten Vorwand für einen österreichischen Schlag
gegen die serbische Armee in Albanien lieferten. 37 In einem Gespräch mit dem österreichischen Außenminister Leopold Graf von Berchtold am 26. Oktober 1913 versicherte er diesem überschwänglich, dass, »was immer vom Wiener Auswärtigen Amte komme, für ihn [also Wilhelm] ein Befehl sei«. 38 Das war gewiss eine übertriebene und unbedachte Äußerung; mit Blick auf die späteren Entwicklungen erscheint sie, wie Klaus Hildebrand bemerkt, als »lebensgefährliche Kurzsichtigkeit«. 39 Aber es wäre falsch, sie durch die Brille des Juli/August 1914 zu interpretieren, weil sie in einem Kontext gesagt wurde, in dem eine deutsche Unterstützung für das betreffende, österreichische Vorgehen – ein Ultimatum, das die Serben aus Albanien vertrieb – ohne Gefahr für Deutschland oder für den europäischen Frieden angeboten werden konnte: Im Herbst 1913 waren die Großmächte sich völlig einig, dass Serbiens Ansprüche auf einen Teil Albaniens unberechtigt waren, und unterstützten Österreich-Ungarn in seinem Protest dagegen. Selbst Sergej Sasonow, der russische Außenminister, räumte ein, dass »Serbien an den Ereignissen, die zu dem aktuellen Ultimatum geführt hatten, mehr Schuld trage, als gemeinhin angenommen werde«. St. Petersburg versuchte auch unverzüglich, die Serben zum Einlenken zu bewegen. 40
Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass es bei Wilhelms großspuriger, aggressiver und sorgloser Wortwahl nicht schwer fällt, ihn als
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