Wilhelm II
die Wähler) nicht bereit war zu zahlen. Außerdem wurden die Konservativen durch das Aufkommen eigenständiger und einflussreicher Splittergruppen innerhalb der Partei und der Wählerschaft zu einem unberechenbaren Bündnispartner. Wie Holstein im April 1897 notierte, waren die Konservativen unzuverlässige Partner für die Regierung, weil sie sich »in Agrarier, Bauernbündler, Christlich-Soziale, Antisemiten aufgelöst« hätten, mit dem Ergebnis, dass es »einen kompakten konservativen Wahlkörper nicht mehr« gebe. 14 Wilhelms Auseinandersetzungen mit den Konservativen sollten zu den erbittertsten seiner Herrschaft zählen.
Was machte Wilhelm nun aus dieser Ausgangslage? Wie sah sein politisches Programm aus? Die Beantwortung dieser Fragen ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wilhelm sprach häufig über verschiedene Themen, aber mit kohärenten, programmatischen Aussagen tat er sich schwer. Es mangelte ihm an der intellektuellen Distanz und synoptischen Vision, die einen Politiker dazu befähigen, disparate Dinge miteinander in Einklang zu bringen, gemeinsame Themen zu erkennen, die Implikationen zu analysieren und vernünftige, allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Lust an der Machtausübung zählte zu den grundlegenden, treibenden Kräften hinter seinem politischen Verhalten. Aber wurde dieser Machthunger in den Dienst einer bestimmten »politischen Linie« gestellt oder erschöpfte er sich in demonstrativen, planlosen Akten der Selbstbehauptung?
Im Folgenden wird gezeigt, dass es in der Tat möglich ist, in den innenpolitischen Initiativen des Kaisers ein konsistentes – wenn auch wenig durchdachtes und schlecht artikuliertes – Ziel zu erkennen: nämlich die politisch »neutrale« Mitte in der deutschen Politik und Kultur zu integrieren und zu vergrößern, sowie seine Monarchie genau auf diese Basis zu stützen. Diese Mitte wurde durch die Merkmale definiert, die Wilhelm für die Kernpunkte des Konsenses unter der Mehrheit der anständigen und klar denkenden Deutschen hielt: Begeisterung für die deutsche »Nation« und ihre Sache, Misstrauen gegen partikularistische Elemente, Offenheit für technologische Neuerungen und Feindschaft gegen jede Form von Sozialismus. Wie Johannes Miquel, Finanzminister nach Bismarcks Abschied, im März 1890 notierte: Wilhelm betrachtete sich als »Vertreter einer Politik der Sammlung und Versöhnung, welche die Parteigegensätze vermindern und alle zur Mitarbeit bereiten Kreise vereinigen« wollte. 15 Der Kaiser schickte sich an, dieses Ziel auf drei Wegen zu erreichen: die Schlichtung von Interessenkonflikten, die Sammlung der gemäßigten und konservativen Kräfte gegen die angeblichen Feinde der Gesellschaftsordnung und die Übernahme symbolträchtiger Projekte von nationaler Bedeutung durch den Monarchen.
Diese Verpflichtungen gründeten sich auf die feste Überzeugung von der transzendenten Qualität seines Amtes. Wilhelm machte kein Hehl aus seiner erstaunlich sakralen Auffassung von der Kaiserkrone – hier klang die exaltierte, politische Theologie Friedrich Wilhelms IV. nach. Wilhelms Glaube, er sei der von Gott berufene Vermittler zwischen Gott und seinen Untertanen, war von absolut zentraler Bedeutung für seine Ansicht, es sei die ureigenste Aufgabe des Kaisers, in seiner Person die auseinander laufenden Interessen der Regionen, Klassen und Konfessionen zu konzentrieren und miteinander zu versöhnen. Genau wie Friedrich Wilhelm IV. assoziierte auch Wilhelm II. seine öffentliche Funktion mit einem ökumenischen Verständnis des Christentums, das sämtliche historischen Konfessionen umfasste. 16
Diese Vision der kaiserlichen Transzendenz hatte auch eine technokratische Dimension. Als Kind hatte Wilhelm die Begeisterung seiner Zeitgenossen für wissenschaftliche Neuerungen und Entdeckungen in einer Ära geteilt, als technische Wissensformen für einen wachsenden Massenmarkt der Kulturkonsumenten popularisiert wurden. 17 Als Erwachsener interessierte er sich weiterhin stark für Wissenschaft und Technik. »Immer von Neuem muss man staunen«, schrieb 1904 ein hoher Regierungsbeamter, »welch ungewöhnliches Interesse der Kaiser für viele Anforderungen und Fortschritte hat. Heute sind es die Radiumstrahlen […] dann wieder die freie und voraussetzungslose wissenschaftliche Forschung und schließlich auch ganz besonders die Entwicklung der Maschinentechnik [...]« 18 Tatsächlich konstituieren diese Interessen ein so zentrales und
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