Wilhelm II
bereits getroffen war. Wilhelm erwartete zurück in Berlin seitens der Eltern ein kühler Empfang. »Prinz Wilhelm wurde bei seiner Rückkehr hierher von allen Seiten auf das herzlichste empfangen außer von seinen Eltern. Sie hatten zuviel Gutes über ihn hören müssen […]«, beobachtete Graf Waldersee, der den Prinzen auf der Reise begleitet hatte. »Wer sich bei ihnen insinuieren will, muss vom Sohne schlecht sprechen [...]« 23
Wilhelms zwölftägige Russlandreise war ein Erfolg. Er verstand sich gut mit Zar Alexander III. und machte allem Anschein nach großen Eindruck bei seinen russischen Gesprächspartnern. 24 Überdies nahm er die seltsame Gewohnheit an, seinem Großvater direkt schriftlich Bericht zu erstatten, und provozierte damit einen Protest seitens des deutschen Botschafters in St. Petersburg, der den Eindruck hatte, die »Geheimdiplomatie« des Prinzen untergrabe seine Stellung. Noch bevor Wilhelm russisches Territorium verlassen hatte, begann er sogar, mit Bismarcks stillschweigendem Einverständnis, eine »Geheimkorrespondenz« mit dem Zaren, in der er sich selbst dem russischen Herrscher als standhafter Gegner der Russland-feindlichen Haltung seines
Vaters präsentierte. In einem charakteristischen Brief, den Wilhelm kurz nach der Rückkehr schrieb, drängte er den Zaren, die Ausbrüche seines Vaters nicht allzu ernst zu nehmen: »Du kennst ihn, er liebt die Opposition, steht unter dem Einfluss meiner Mutter, die, ihrerseits von der Königin von England dirigiert, ihn alles durch die englische Brille sehen lässt. Ich versichere Dir, dass der Kaiser, Fürst Bismarck und ich völlig miteinander übereinstimmen und dass ich nicht aufhören werde, die Festigung und die Aufrechterhaltung des Dreikaiserbundes als meine höchste Pflicht anzusehen.« Ein Brief vom Juni 1884 informierte den Zaren über die extreme Feindseligkeit von Wilhelms Vater gegenüber der Politik des russischen Monarchen und seiner Regierung: »Er (Papa) beschuldigte die Regierung der Lüge, des Verrats, usw., es gab schließlich kein hasserfülltes Adjektiv, dessen er sich nicht bediente, um Euch anzuschwärzen.« 25
Im folgenden Jahr hielt Wilhelm mit Bismarcks Unterstützung weiterhin den »heißen Draht« zum Zaren aufrecht. An dieser verblüffenden Verletzung der familiären Privatsphäre gegenüber einem ausländischen Monarchen lässt sich ablesen, wie entschlossen Wilhelm an der Schärfung seines eigenen Profils arbeitete, indem er sich die Animositäten und politischen Spaltungen am Hof der Hohenzollern zunutze machte. Die Russlandreise von 1884 schuf ferner wichtige Präzedenzfälle für das spätere Verhalten Wilhelms als Monarch. Es war nicht das letzte Mal, dass Wilhelm kurzerhand eine diplomatische Rolle usurpierte, für die er weder geschult noch instruiert worden war. Während seiner ganzen Herrschaft neigte er, wie der berühmte »Willy-Nicky«-Briefwechsel schließen lässt, dazu, Diplomatie im eng dynastischen Sinn zu interpretieren und den Einfluss des persönlichen Verkehrs zwischen Monarchen auf die internationalen Beziehungen zu überschätzen.
Eine langwierige Auseinandersetzung wegen der geplanten Heirat von Wilhelms Schwester Viktoria, »Moretta« genannt, mit Prinz Alexander von Battenberg, Fürst von Bulgarien, vertiefte den Graben am Hof und bot Wilhelm weitere Gelegenheit zur
Selbsterhöhung. Das Projekt entwickelte sich zu einem komplexen und weitverzweigten politischen Konflikt, der hier nur in groben Zügen wiedergegeben werden soll. 26 Die Kronprinzessin hatte sich schon 1882 für eine Verbindung zwischen ihrer Tochter und »Sandro« Battenberg ausgesprochen, und nach einer Begegnung ein Jahr später betrachtete sich das Paar selbst offenbar als verlobt. Doch der Plan wurde von Kanzler Bismarck energisch abgelehnt, der in erster Linie wegen der Auswirkung der geplanten Heirat auf die deutschen Beziehungen zu Russland Einspruch erhob. Battenberg war ursprünglich von den Russen 1878 als Marionettenherrscher in Bulgarien eingesetzt worden, da er sich in der Folge jedoch mit der nationalen Bewegung für die Vereinigung und Unabhängigkeit Bulgariens identifiziert hatte, war er in direkten Gegensatz zur russischen Politik auf dem Balkan geraten. Mittlerweile war er in St. Petersburg eine persona non grata. Bismarck war der Ansicht, dass die Heirat einer Hohenzollern-Prinzessin in die Familie der Battenbergs die guten Beziehungen zu Russland untergraben würde, die der Dreh- und Angelpunkt seiner
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