Wilhelm II
eindringlich um die Erlaubnis, sie auf eine allgemeine Schule zu schicken, damit sie mit gleichaltrigen Kindern aufwuchsen. Wie John Röhl treffend bemerkte, war die Entscheidung, Wilhelm auf das Lyceum Fredericianum in Kassel zu schicken, »ein Experiment ohne Vorgang«. Kein einziger Prinz der Hohenzollern war bislang auf diese »bürgerliche« Art erzogen worden. Es war ein Schritt, der die sich wandelnden Konzeptionen der fürstlichen Erziehung wiedergab, nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus: Georg V. wurde ebenfalls zur Ausbildung in die Kompanie aus Gleichaltrigen am Naval College geschickt, und selbst der jugendliche Kaiser Hirohito besuchte eine weiterführende Schule in Tokio. 14 Wilhelm hätte natürlich auch auf ein Gymnasium in Berlin gehen können, aber seine Mutter sprach sich dagegen aus, mit der Begründung, die einzige geeignete Schule in der Hauptstadt sei politisch zu »reaktionär«. 15
Wie nicht anders zu erwarten, stieß der Plan auf massiven Widerstand des Kaisers; erst nach einer längeren »Belagerung von allen Seiten mit mehreren Geschützen« konnte er zur Einwilligung überredet werden. Wie Victoria in einem Brief an ihre Mutter feststellte, konnte der Kaiser den jungen Wilhelm »jetzt nicht mehr zwingen, bei allen möglichen Gelegenheiten in Berlin aufzutreten und sich in der Welt zu zeigen – es war der einzige Weg, den Kaiser an diesem grotesken Vorhaben zu hindern«. 16 Der Umzug nach Kassel war ein Sieg für die pädagogischen Ideale des Kronprinzen und seiner Frau. Wilhelms Einschreibung in das Kasseler Gymnasium im Jahr 1874 war mit längeren Abwesenheiten aus Berlin und, noch wichtiger, mit einer Befreiung von militärischen Pflichten bis zu seinem 18. Lebensjahr verbunden.
(Wilhelm war seit seinem zehnten Geburtstag dem 1. Garderegiment zu Fuß zugeteilt.) Die Unterordnung unter ein hartes und meritokratisches, pädagogisches Regime sollte ebenfalls dazu dienen, Wilhelm die Arroganz und die fürstlichen Allüren auszutreiben, die von der Speichelleckerei und Selbstdarstellung des Hoflebens gefördert wurden.
Die Kronprinzessin verfolgte stets misstrauisch die Rolle, die das Militär bei der Sozialisierung ihres ältesten Sohnes spielte, und reagierte überempfindlich auf alle Anzeichen, die auf eine Assimilierung Wilhelms an das militärisch-reaktionäre Ethos hindeuteten. Bereits im Februar 1871, als der Prinz zwölf Jahre alt war, behauptete sie, an Wilhelm »eine gewisse Empfänglichkeit für die platten, bornierten Auffassungen des Militärs« entdeckt zu haben. 17 Vor allem ihrem Einfluss war es zu verdanken, dass ihr Sohn in den Genuss einer – gemessen am Standard der Erziehung eines Hohenzollern-Prinzen – bemerkenswert unmilitärischen Erziehung kam. Bis zum Abschluss seiner Hochschulbildung an der Universität Bonn wurde Wilhelms militärisches Pflichtprogramm entschieden den Anforderungen seiner »zivilen« Bildung untergeordnet. Das erklärt auch die Tatsache, dass Wilhelm trotz seiner unbestrittenen Neigung zu Kultur und Ambiente des Soldatenlebens – er hegte eine besondere Vorliebe für Uniformen – offenbar nie die Haltung der Selbstunterordnung und Disziplin verinnerlichte, die eine voll ausgeprägte, militärische Erziehung in Preußen eigentlich erreichen sollte. Er tat sich mit Zurechtweisungen oder sogar Ratschlägen von vorgesetzten Offizieren schwer. Selbst sein militärischer Adjutant Hauptmann Adolf von Bülow, der immerhin fünf Jahre, von 1879 bis 1884, an der Seite Wilhelms zugebracht hatte, räumte ein, dass es ihm nicht gelungen sei, die Auswirkungen der Erziehung des Prinzen zu korrigieren; Wilhelm hatte zwar das äußere Brimborium übernommen, aber nicht die Wertvorstellungen und Geisteshaltung eines preußischen Offiziers. 18 Wilhelm war keineswegs das Geschöpf Potsdams und der Kasernenhöfe, das manche populäre Biografien von ihm gezeichnet haben, sondern
ein militärischer Dilettant. Bei allen, oft geäußerten Bedenken muss der Plan seiner Mutter, den Zugriff des Militärs auf ihren Sohn zu untergraben, als Erfolg gewertet werden. Ob die seltsame Mischung aus Hinzpeter, Potsdam, Kassel und Bonn, die Wilhelms Erziehung schließlich ausmachte, nun wirklich eine Verbesserung gegenüber dem traditionellen Modell war, ist eine ganz andere Frage. Es spricht manches für die Vermutung, dass die merkwürdige Unschlüssigkeit der Erziehung Wilhelms, das Schwanken zwischen gegensätzlichen Lebenswelten sowie das Fehlen eines
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