Wilhelm II
und Charaktereinschätzungen nur so wimmelt.
Dabei besteht zwischen Wilhelms persönlichen Beziehungen und seinem Ansehen und dem Schicksal der deutschen Diplomatie insgesamt längst kein so direkter Zusammenhang, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wilhelms persönlicher Kontakt zu anderen Monarchen hatte einen geringen Einfluss auf den Kurs der deutschen Politik. Die Trennlinie zwischen persönlichen Beziehungen und den Beziehungen zwischen Regierungen verlief nicht so klar, wie man meinen könnte: Die »privaten« Briefe des Kaisers an Nikolaus II. wurden in Wirklichkeit vom deutschen Auswärtigen Amt geprüft und redigiert, genau wie »Nickys« Antworten vom russischen Außenministerium. 87 Freilich wurde Wilhelm von einigen Staatsmännern von ganzem Herzen verabscheut, aber das war kein wesentlicher Faktor in den deutschen, auswärtigen Beziehungen. An der Unvereinbarkeit der deutschen Wünsche mit dem, was die Briten anzubieten bereit waren, scheiterten alle Hoffnungen auf ein englisch-deutsches Bündnis Anfang der neunziger Jahre, nicht an Salisburys Abneigung gegen Wilhelm. Und nach demselben Muster wäre es grotesk zu behaupten, dass das französisch-russische Bündnis von 1894 auch nur zum Teil wegen der Sympathie zustande kam, die der reaktionäre Zar Alexander III. oder sein Sohn Nikolaus II. für die republikanischen Führer in Frankreich empfanden, oder umgekehrt. Man sollte sich nicht von der Vorherrschaft des
Tratsches und der persönlichen Bemerkungen in diplomatischen Quellen dazu verleiten lassen, ihren Einfluss auf die Gestaltung der Politik zu überschätzen. Der Charakter der Beziehungen zwischen Staaten und ihre Interessen gaben den Ton an, nicht das persönliche Gespräch unter Monarchen und Politikern. Niederländische, österreichische und amerikanische Diplomaten gaben eine allgemein viel positivere Einschätzung von Wilhelm ab und waren weniger geneigt, ihm kriegerische Absichten zu unterstellen, als ihre französischen, britischen und russischen Pendants. In amerikanischen und niederländischen, diplomatischen Berichten wurde der deutsche Souverän durchweg als »eindrucksvoll, gut informiert und tüchtig« und als im Grunde friedlich in seinen Absichten geschildert, wenn auch nicht immer in seinen Äußerungen. Sie betrachteten ihn als ein mäßigendes Gegengewicht zu dem Einfluss der »Militärpartei«. 88
Das soll nicht heißen, dass die Haltung gegenüber Wilhelms Person überhaupt keinen Einfluss auf das internationale Klima gehabt hätte. Es besteht kein Zweifel daran, dass Wilhelm den Charakter der deutschen Politik auf eine geradezu einzigartige Weise personifizierte. Das lag nicht zuletzt daran, dass seine sporadischen Einmischungen häufig sehr exponiert waren, wie zum Beispiel die Krüger-Depesche oder, dass sie schlecht getarnt waren wie die naiven und durchsichtigen Intrigen, die Wilhelm während der Faschoda-Krise von 1898/99 anzettelte. 89 Hinzu kam der Umstand, dass Wilhelms Charakter das verkörperte, was viele Zeitgenossen in Paris, London und St. Petersburg für die beunruhigendsten Merkmale der deutschen Politik hielten, nämlich ihre Unberechenbarkeit, die keine klaren Linien erkennen ließ, ihre »springende Unruhe« und das Fehlen eines durchgängigen »Leitgedankens«. Diese Parallelen zwischen dem Verhalten und dem Charakter des Mannes und der Politik des Staates erhärteten naturgemäß die verbreitete, wenn auch falsche Schlussfolgerung, dass Wilhelm der erste und einflussreichste Architekt der deutschen Politik sei. Das bedeutete wiederum, dass Wilhelm zum Brennpunkt allgemeinerer Befürchtungen bezüglich
der deutschen Macht und der Richtung der deutschen Politik wurde. Im Sommer 1899 ließ beispielsweise dem französischen Außenminister Théophile Delcassé die Meldung keine Ruhe, dass Wilhelm ein Treffen mit dem Zaren anstrebe. Er schloss daraus, dass Wilhelm die Absicht habe, Nikolaus vorzuschlagen, dass Deutschland und das Zarenreich Österreich-Ungarn unter sich aufteilten. Er reiste sogar persönlich nach St. Petersburg, um zu verhindern, dass dieses diabolische Szenario Realität wurde. Delcassés Befürchtungen waren völlig unbegründet, aber sie veranschaulichen, wie sehr in dieser Phase die Wahrnehmungen des diplomatischen Establishments durch ein Klima der Paranoia verzerrt waren. »Die Diplomatie des Imperialismus«, schreibt Christopher Andrew, »beruhte häufig auf Misstrauen und auf Mythen, die von Misstrauen hervorgebracht wurden. Die
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