Wilhelm II
durchblicken, dass die Außenpolitik Wilhelms II. und seiner Regierung genau das Gegenteil tat. Das sei hier dahingestellt. Aber in der Ära der Allianzen, chauvinistischen Massenblätter, Flotteneuphorie und schwindelerregender Wachstumsraten beim Export gab es kein Zurück zu den engeren Horizonten der Bismarckschen Diplomatie – nicht für das deutsche Wirtschafts- und Bildungsbürgertum und schon gar nicht für den Mann auf dem Thron.
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Macht und öffentliche Meinung
Die Macht des Wortes
In einem Sinn, der uns aus heutiger Sicht wenig bemerkenswert erscheint, aber damals eine echte Neuerung bedeutete, war Wilhelm in der Tat ein »Medienmonarch«. Noch vor seiner hronbesteigung sah er sich wegen seiner Verbindungen zu dem Hofprediger Adolf Stoecker einem Sturm der Kritik seitens der Journalisten ausgesetzt. Im Zusammenhang mit der Krankheit und dem Tod seines Vaters hatte er ebenfalls eine Reihe unerfreulicher Scherereien mit der Presse. Als Wilhelm den bettlägerigen Friedrich Wilhelm im November 1887 in der Villa Zirio in San Remo aufsuchte, musste er sich wegen des Platzmangels in der Villa im gegenüberliegenden Hotel Victoria einquartieren. Dort wurde er auf Schritt und Tritt von Journalisten beobachtet und verfolgt, die ihre Teleskope auf die Residenz des kranken Thronfolgers ausgerichtet hatten; einige erhielten gar Exklusivinformationen von dem britischen Arzt Morell Mackenzie. »Sogar am Sterbetag meines Vaters, kaum dass er die Augen geschlossen hatte«, erinnerte Wilhelm sich in seinen Memoiren, »fand ich im Sterbezimmer einen Wiener Journalisten, den Mackenzie hereingeführt hatte; er ist dann schneller hinaus- als vorher hereingekommen.« 1
Somit lernte Wilhelm schon früh die Macht und Allgegenwart der Presse kennen; tatsächlich neigte er sein ganzes Leben lang dazu, die eigene Fähigkeit, die öffentliche Meinung sowohl widerzuspiegeln als auch zu prägen, zu überschätzen. Der Glaube an sein Talent, für die deutsche Öffentlichkeit und zu ihr zu sprechen, war ein zentraler Bestandteil der Vorstellung Wilhelms von einer erfolgreichen Monarchie, und indem er die nationalen Zeitungen geradezu verschlang, trachtete er danach, ein Gefühl der
Verbundenheit mit den großen Themen zu wahren, die damals die Nation bewegten. Hier holte er sich Impulse für einige seiner Initiativen auf den Feldern der Sozialpolitik, Verteidigung, akademischen Forschung und technischen Innovation. Die Minister erhielten ihre Anordnungen oder Empfehlungen häufig in Form gekritzelter Randbemerkungen zu aus der Tagespresse ausgeschnittenen Artikeln – da ist es kein Wunder, dass auch jene, die ihn beeinflussen wollten, großen Wert darauf legten, den Strom der Zeitungsausschnitte auf seinen Schreibtisch zu kontrollieren. 2 Genau wie Bismarck und die preußischen Regierungen vor ihm »korrigierte« Wilhelm gelegentlich persönlich Pressekommentare, die er seinen eigenen Interessen oder denen der Regierung für abträglich hielt. 3 Ferner reagierte Wilhelm überaus sensibel auf Kommentare zu seiner eigenen Person in der Presse. »Es ist merkwürdig«, beobachtete Hofmarschall Graf Robert von Zedlitz-Trützschler im Jahr 1904, »wie empfindlich der Kaiser der Presse gegenüber ist. An sich harmlose Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten aus seinem Leben können ihn in starke Erregung bringen, wenn sie ihm erzählt werden oder wenn er beim Lesen darauf stößt.« 4 Diese Befürchtungen schlugen sich nicht nur in Wilhelms allergischer Reaktion auf jede gedruckte Kritik nieder, sondern auch darin, dass er penibel auf sein äußeres Erscheinungsbild achtete: der rasche Wechsel der Uniformen, stets passend zum jeweiligen Anlass; das sorgfältige Zwirbeln seines berühmten Schnurrbarts und die demonstrative Pose einer würdevollen, »offiziellen Haltung« bei öffentlichen Zeremonien. Von seiner Manie für die äußere Erscheinung blieb nicht einmal die Kaiserin verschont: Wie die australische Kulturhistorikerin Juliette Peers nachweist, ließ Wilhelm nicht nur Entwürfe für ihre Kleider, Juwelen und ausgefallenen Hüte anfertigen, sondern drängte sie auch, ihre schlanke Taille über eine strenge Diät, Medikamente und das Tragen eines Korsetts zu bewahren. 5
Diese offensichtlich moderne Sorge um das eigene Image sollte keineswegs verächtlich als »Symptom« einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung abgetan werden. Sie war absolut
rational in Anbetracht der Einschätzungen Wilhelms – und vieler Zeitgenossen –
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