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Wilhelm II

Wilhelm II

Titel: Wilhelm II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Christopher
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schicksalhafte Dimension der Monarchie wie ein roter Faden durch alle Reden des Kaisers. In einer charakteristischen Ansprache im September 1907 im Rathaus von Memel forderte Wilhelm die Zuhörer auf, sich daran zu erinnern, dass »das Walten der göttlichen Vorsehung« bei den großen historischen Leistungen des deutschen Volkes »zu erkennen ist, und wenn unser Herrgott nicht mit uns noch etwas Großes in der Welt vorhätte, dann würde er unserem Volke auch nicht so herrliche Eigenschaften und Fähigkeiten verliehen haben«. 30
    Wilhelms Reden machten auf die Zuhörer häufig einen viel besseren Eindruck als auf diejenigen, die sie später lasen. Die Zuhörer konnten sich von dem Auftritt und der Überzeugung des Redners und der Feierlichkeit des Anlasses mitreißen lassen. Der Alkohol mag ebenfalls sein Teil beigetragen haben. Aber nachgedruckt auf nüchternem Papier wurden die Texte, selbst in massiv bearbeiteter Form, leicht zur Zielscheibe des Spotts: Sie wirkten übertrieben, pompös, größenwahnsinnig. Sie »gingen leicht über das Ziel hinaus«, wie Holstein sagte. 31 Metaphern und Passagen aus Wilhelms Reden wurden häufig herausgepickt und in satirischen Zeitschriften gegen ihn verwendet. Als er zum Beispiel Pessimisten den Kampf ansagte: »Schwarzseher dulde ich nicht!«, da antwortete der Simplicissimus, die Satirezeitschrift des wilhelminischen Deutschlands, mit einer ganzen Ausgabe, die dem »Schwarzsehen« gewidmet war. 32 Im Jahr 1898 wurde eine Rede, die Wilhelm in Jerusalem während einer Palästinareise
gehalten hatte, in einem im Simplicissimus veröffentlichten Gedicht verspottet, das sich über die irrigen Vorstellungen des Souverän von Größe lustig machte. Das Gedicht enthielt folgende Strophe:
    So sei uns denn noch einmal hoch willkommen
Und laß dir unsere tiefste Ehrfurcht weihn,
Der du die Schmach vom Heil‘gen Land genommen,
Von dir bisher noch nicht besucht zu sein.
Mit Stolz erfüllst du Millionen Christen;
Wie wird von nun an Golgatha sich brüsten,
Das einst vernahm das letzte Wort vom Kreuz
Und heute nun das erste deinerseits. 33
    In seiner Rede von 1892 vor dem Brandenburger Provinziallandtag hatte Wilhelm mit dem großartigen Versprechen geschlossen, dass er die Brandenburger »herrlichen Tagen entgegen«-führen werde. Die Wendung entwickelte schon bald ein Eigenleben und tauchte wiederholt in einer Vielzahl satirischer Zeitschriften auf: Noch im Jahr 1913 zeigte eine Karikatur im Simplicissimus den deutschen »Michel« als Kind. Es hält vertrauensvoll die Hand einer Don Quichote-ähnlichen Gestalt, in der man Wilhelm von hinten wiedererkennt. Vor den beiden steht ein Wegweiser mit der Aufschrift: »Herrlichen Tagen entgegen«. Das Kind fragt: »Ist es viel weiter, Papa?« 34 Die Karikatur spielte in der Tat eine immer bedeutendere Rolle bei der kritischen Rezeption des deutschen Monarchen. Als nach 1904 die ersten eindeutig negativen Karikaturen des Kaisers veröffentlicht wurden, ohne dass die Behörden die Betreffenden bestraften, kam es, wie Jost Rebentisch zeigt, zu einer regelrechten Kettenreaktion immer bissigerer, bildlicher Satiren. Im Jahr 1906 war Kaiser Wilhelm II. die am häufigsten karikierte Einzelperson im ganzen Reich. 35
    Weder über Wilhelm I. noch über Bismarck hatte man sich jemals so respektlos lustig gemacht (allerdings sind Parallelen in illegalen Darstellungen Friedrich Wilhelms IV. aus der Zeit der
1848er-Revolution zu entdecken). Immer wieder kam es in der wilhelminischen Ära zu juristischen Sanktionen wegen Majestätsbeleidigung, so beschlagnahmte man Zeitschriftenauflagen oder verfolgte und verhaftete Autoren und Redakteure. Letztlich erwiesen sich diese Maßnahmen aber als kontraproduktiv, weil sie in der Regel nur bewirkten, dass die Auflagen sprunghaft anstiegen und dass verfolgte Journalisten zu nationalen Berühmtheiten wurden. 36
    Es gab zwei Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Die erste bestand darin, den Wortschwall des Mannes selbst zu bremsen. »Ich wollte«, schrieb Wilhelms Mutter im Februar 1892 an Königin Victoria, »ich könnte ihm bei allen Gelegenheiten, bei denen er öffentlich sprechen will, ein Schloss vor den Mund hängen.« 37 Wilhelm ganz zum Schweigen zu bringen, war ein Ding der Unmöglichkeit, aber viele hofften, seine öffentlichen Auftritte zu »lenken«. Man konnte ihn eventuell davon abhalten, bei Anlässen wie dem Bankett des Brandenburger Provinziallandtages, wo er sich gerne daneben benahm, eine

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