Wilhelm II
ausbreitend […]« Bei einem Treffen nach der Rede waren die anwesenden Journalisten sich allesamt einig, dass die Worte »über Europa« aus der Fassung, die zur Veröffentlichung in der Presse verschickt wurde, gestrichen werden sollten. In einer späteren, vom Zivilkabinett ausgegebenen Fassung waren die Worte »über dem [Deutschen] Reich« eingefügt. 46
Bei einer derartigen Pressepolitik konnte naturgemäß auch leicht etwas durchsickern, denn sie beruhte auf der Annahme, dass sich die Journalisten auch stets an die »Gentleman’s Agreements« mit den Hofbeamten hielten. In Wahrheit wurden solche Übereinkünfte häufig verletzt, sensibles Material wurde an
deutschsprachige ausländische Zeitungen wie das Fremdenblatt in Wien weitergeleitet und anschließend in der deutschen Presse nachgedruckt. 47 Auf jeden Fall reiste Wilhelm so häufig und sprach an so vielen Orten und zu so verschiedenen Anlässen, dass es so gut wie unmöglich war, die Verbreitung von Informationen über seine Äußerungen zu kontrollieren.
Eine Episode führt besonders eindrücklich vor Augen, mit welchen Schwierigkeiten eine Kontrolle der kaiserlichen Äußerungen verbunden war. Am 27. Juli 1900 hielt Wilhelm in Bremerhaven anlässlich der Einschiffung deutscher Soldaten nach China, um den Boxeraufstand niederzuschlagen, eine Ansprache, die als »Hunnenrede« in die Geschichte einging. Am Vormittag des Tages hatte Wilhelm drei Truppenschiffe im Hafen inspiziert. Um ein Uhr stellten sich die Männer aus allen drei Schiffen gemeinsam an Bord der Halle in Reih und Glied auf und hörten eine Rede des Kaisers, in der er sie ermahnte, als Vorbilder deutscher Disziplin und Tapferkeit aufzutreten, und sie vor den Gefahren warnte, die sie in China erwarteten. Die Rede enthielt auch folgende, vielzitierte Passage:
Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen. 48
Noch während der Kaiser sprach, vereinbarte allem Anschein nach Bülow (damals noch Außensekretär) mit Kanzler Hohenlohe, dass die anwesenden Journalisten aufgefordert werden sollten, die Rede nicht zu veröffentlichen, bis eine offizielle Fassung von der Regierung ausgegeben worden sei. Die Journalisten fügten sich stillschweigend, und die offizielle Version, die am selben Abend verteilt wurde, enthielt Zitate, aber keinen Hinweis darauf,
dass die Soldaten keine Gnade walten lassen sollten, und auch die Hunnen wurden nicht erwähnt. Es erwies sich jedoch als unmöglich, die Erinnerung aller Augenzeugen zu unterdrücken. Abgesehen von den Soldaten hatten sich nämlich zwei bis dreitausend Zuschauer im Hafenbereich versammelt. Sie behielten die Passagen in Erinnerung, die sie am stärksten beeindruckt hatten. Die Worte »Pardon wird nicht gegeben« wurden mit Kreide auf Truppenzüge geschrieben, die durch ganz Deutschland fuhren. Als Bülow die (wahren) Gerüchte über die Aussagen des Kaisers zu Ohren kamen, versuchte er, die Initiative wieder an sich zu reißen, indem er eine zweite »offizielle Version« autorisierte, welche die Wendung »Pardon wird nicht gegeben« enthielt, aber den Verweis auf die Hunnen immer noch unterschlug. Unterdessen erschien jedoch eine dritte Fassung der Rede in etlichen Zeitungen im Raum Bremerhaven. Sie ging auf einen Bericht zurück, den ein Journalist geschrieben hatte, der die Ansprache selbst gehört hatte, aber entweder von Bülows Anweisung nichts gewusst hatte oder nicht gewillt war, sie zu befolgen. Diese Version gibt am vollständigsten die Originalrede Wilhelms wieder, einschließlich der Passagen um »Pardon« und »Hunnen«. 49
Die Widersprüche und logischen Unstimmigkeiten im Text lassen vermuten, dass Wilhelm womöglich, in gewohnter Manier, von einem harmloseren, vorbereiteten Entwurf abwich und Aussagen über ein Thema improvisierte, das ihn in den letzten Wochen intensiv beschäftigt hatte: nämlich die Brutalität und Skrupellosigkeit, mit der die Boxer über die europäischen Gesandtschaften in China hergefallen waren – was eine Woge haarsträubender Horrorgeschichten in der europäischen Presse
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