Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Gesetzesvorlagen erforderlich, und er hatte das Recht, selbst Gesetzesinitiativen einzubringen, auch wenn manche Lehrbücher das Gegenteil behaupten. Über das Recht, den Reichshaushalt zu prüfen und zu verabschieden, hatte er ein geeignetes Druckmittel für die Verhandlungen mit der Exekutive in der Hand und konnte ihre Ambitionen kritisch prüfen. Andererseits war die Macht des Reichstags, die politischen Ergebnisse zu bestimmen, stark durch die Tatsache eingeschränkt, dass der Kanzler für sein Amt nicht auf die Unterstützung der Mehrheit angewiesen war. Das deutsche Parlament hatte damals im Gegensatz zum britischen nicht die Macht, Regierungen über ein Misstrauensvotum abzusetzen. Der Unterschied wurde durch eine bezeichnende Abweichung beim Zeremoniell symbolisch ausgedrückt: Während der britische Souverän zur Eröffnung des neuen Parlaments ins Unterhaus kam (und noch heute kommt), wurden die Abgeordneten zum deutschen Reichstag für dieselbe Zeremonie in den Palast einberufen.
Der Reichstag enthielt eine vielschichtige Palette von Parteien. Die Verabschiedung von Gesetzesvorlagen durch das Parlament entwickelte sich zur wohl anspruchsvollsten und mühsamsten Aufgabe für den Reichskanzler (die noch dadurch erschwert wurde, dass er die Interessen des preußischen und des deutschen Parlaments ausbalancieren musste). Und selbst wenn die Macht des Reichstags, Einfluss auf die politische Agenda zu nehmen, eingeschränkt war, sind sich die Historiker doch weitgehend einig, dass die wilhelminische Ära eine »wachsende Legitimität der parlamentarischen Politik« erlebte, wie David Blackbourn ausführt. 14 Ein wichtiger Faktor bei dieser Entwicklung war die Bestimmung unter Artikel 22 der Reichsverfassung, dass die öffentlichen Sitzungen des Reichstags stets wahrheitsgemäß veröffentlicht werden mussten. Das gestattete es einigen Rednern im Parlament, als landesweit bekannte Persönlichkeiten hervorzutreten, und erlaubte es der politisch interessierten Öffentlichkeit, an den großen, aktuellen Debatten – zumindest als Zuschauer – teilzunehmen. Weitere Hinweise auf die wachsende Autorität des Parlaments liefert die anschwellende Flut von Angelegenheiten, die in den Ausschüssen des Reichstags erledigt wurden, und die wachsende Bedeutung der Parteiführer und Experten aus den Fraktionen für den Entscheidungsprozess.
Welche allgemeinen Schlussfolgerungen kann man aus diesem knappen Überblick über das deutsche Reichssystem ziehen? Es war, wie einige renommierte Analysten bemerkten, ein »System umgangener Entscheidungen«, eine »unvollendete« Verfassung oder ein »unvollendeter Föderalismus«. Wegen der lose und schlecht koordinierten Beziehung zwischen den verschiedenen Machtzentren und des evolutionären Charakters des Systems tun sich Historiker schwer, die genaue Verteilung der Macht zu beschreiben. Während ein Historiker etwa die These vertritt, die wilhelminische Ära habe die allmähliche »Parlamentarisierung« der preußisch-deutschen Verfassung erlebt, heben andere wiederum die »bonapartistische Diktatur« oder den »autoritären« Charakter des Regimes hervor. 15 Es ist zu betonen, dass es sich um ein System handelte, das ständig in Bewegung war und immer wieder neu verhandelt wurde, das von Unschlüssigkeit und Widersprüchlichkeit charakterisiert wurde sowie von wechselnden Machtverteilungen unter den wichtigsten Ämtern und Institutionen. Das hatte unweigerlich Folgen für die Rolle des Kaisers/Königs. Wie würde sich sein Amt nach dem Abtritt des Kanzlers entwickeln? Bismarck war es mit Mühe gelungen, dem schwerfälligen Apparat der deutschen Verfassung seinen Willen aufzuzwingen. Würde dem jungen Kaiser, der großspurig ankündigte, er werde sein eigener Kanzler sein, dies ebenfalls gelingen?
Kaiser gegen Kanzler
Noch vor Wilhelms Thronbesteigung lag es für scharfsinnige Beobachter, die beide Männer kannten, auf der Hand, dass das Miteinander zwischen dem jungen Kaiser und dem 73-jährigen Kanzler nicht einfach werden würde. Das sei eine Frage der Persönlichkeit, bemerkte Graf Waldersee im Gespräch mit Holstein im November 1887. Der betagte, herrschende Kaiser schere sich nicht um sein Image, und es störe ihn nicht, wenn er in der öffentlichen Meinung von Bismarck in den Schatten gestellt werde. »Prinz Wilhelm als Kaiser aber wird dastehen wollen wie der Mann, welcher selber regiert – darum glaube ich nicht, dass es lange geht mit ihm und dem Kanzler.«
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