Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
16 Gewiss ließen schon die Konflikte im Herbst 1887 nichts Gutes ahnen. Auf die Affäre um Stoecker folgte ein nicht ganz so öffentlicher, aber schädlicher Streit zwischen Wilhelm und Bismarck um eine Erklärung, die der Prinz den Herrschern der Bundesstaaten nach der Thronbesteigung zukommen lassen wollte. Bismarck nahm sowohl an dem Zeitpunkt Anstoß als auch an dem Inhalt des Dokuments und konnte Wilhelm überreden, es zu verbrennen. 17 Und der Winter 1887/88 brachte, wie gezeigt, weitere Auseinandersetzungen über die Außenpolitik.
Trotz dieser unheilvollen Vorzeichen folgte auf die Thronbesteigung am 15. Juni 1888 eine Phase ruhiger Kooperation zwischen dem betagten Kanzler und dem neuen Monarchen. Es gelang ihnen, sich in einer Reihe wichtiger Personalentscheidungen zu einigen. Wilhelm und Bismarck waren gemeinsam bei parlamentarischen Abendessen für regierungsfreundliche Fraktionen im Reichstag zu sehen. Hofprediger Stoecker wurde in einem nüchternen Ultimatum des Kaisers aufgefordert, sich zwischen politischer Aktivität und dem geistlichen Amt zu entscheiden. (Bismarck hatte schon seit langem erklärt, dass die Kombination des Hofpredigeramtes mit politischer Agitation gefährlich und inakzeptabel sei.) Wilhelm brach sogar mit der Tradition, indem er sich im offiziellen Regierungsorgan, dem Reichsanzeiger, von der Bismarck-feindlichen Agitation der ultrakonservativen Presse distanzierte, die Schmähreden der Kreuzzeitung verurteilte und erklärte: »Seine Majestät gestatten keiner Partei, sich das Ansehen zu geben, als besäße sie das kaiserliche Ohr.« 18 Das Ganze war ein ermutigendes, öffentliches Signal für das Engagement des Kaisers für das liberal-konservative »Kartell« im Reichstag, das Bismarck bei den Wahlen von 1887 geschmiedet hatte. Das Liebäugeln mit klerikalen und ultrakonservativen Elementen, das den Kanzler während der Stoecker-Affäre so alarmiert hatte, gehörte der Vergangenheit an. Bismarck war ein besserer Höfling, als er selbst wagte zuzugeben, und schloss einen unerwarteten Waffenstillstand mit seinem ehemaligen Gegner, dem gewieften Grafen Waldersee, dessen Einfluss auf Wilhelm zu diesem Zeitpunkt den Höhepunkt erreicht hatte. Als man Wilhelm nahe legte, er solle sein Augenmerk darauf richten, eigene »kaiserliche Ideen« zu entwickeln, protestierte der neue Monarch entschieden: »Es ist doch zu dumm, wenn die Leute gar nicht begreifen wollen, dass die junge und die alte Generation vortrefflich zusammenwirken können. Getrennte Ideen des Kaisers und des Kanzlers existieren gar nicht.« 19
Doch die Harmonie sollte nicht lange anhalten. Es stellte sich schon bald heraus, dass die beiden Männer sehr unterschiedliche Ansichten auf Schlüsselfeldern der Innenpolitik hatten. Die wohl wichtigste Frage betraf die Rolle des Staates bei der Regelung der Arbeitsverhältnisse im deutschen Reich. Wilhelm saß kaum zehn Monate auf dem Thron, als die deutsche Volkswirtschaft von einer massiven Streikwelle erschüttert wurde. Die Streiks begannen Anfang Mai 1889 im nördlichen Ruhrgebiet, dem Kernland des deutschen Bergbaus und der Schwerindustrie, und breiteten sich über das ganze Ruhrgebiet bis nach Aachen, ins Saarland, nach Sachsen und Schlesien aus. Mitte Mai waren 86 Prozent der Industriearbeiter an der Ruhr in Streik getreten. Es kam zu blutigen Zusammenstößen zwischen Streikenden und Regierungstruppen. Im Anschluss daran schwelten die Unruhen fast ein Jahr lang weiter, immer wieder kam es zu Unterbrechungen der Produktion und Gewaltausbrüchen.
Die Haltung des Kanzlers in der Arbeiterfrage 1889/90 war das Endspiel seiner Karriere und versinnbildlicht die Vielschichtigkeit seiner Vorgehensweise als Politiker. Auf Sitzungen des Kabinetts und des Kronrats sowie in Privataudienzen beim Kaiser vertrat Bismarck die Ansicht, dass ein staatliches Eingreifen zugunsten der Arbeiter nur den Sozialdemokraten Auftrieb geben und die Konkurrenzfähigkeit der preußischen Industrie auf internationalen Märkten schwächen werde. Eine Regulierung der Frauen- und Kinderarbeit, gesetzliche Verankerung der Sonntagsruhe und Festlegung einer Obergrenze für die wöchentlichen Arbeitsstunden werde zudem, so argumentierte der Kanzler ein wenig hinterlistig, die Freiheit der Beschäftigten einschränken, so viel und wann immer er oder sie es wünschten zu arbeiten. 20 Bismarck liebäugelte allem Anschein nach heimlich bereits mit einer ganzen Palette von Optionen. Er vertrat schon seit langem
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