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Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
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Unterdrückung sozialdemokratischer Vereinigungen und Publikationen sowie für die Ausweisung der wichtigsten »Agitatoren« bot, war theoretisch noch in Kraft, wurde aber in der Praxis kaum noch beachtet. Die Sozialdemokraten konnten mehr oder weniger frei um die Wähler werben. 4 Mit 19,7 Prozent der landesweiten Stimmen (das Doppelte des vorigen Ergebnisses) erfuhr die SPD nun eine stärkere Unterstützung in der Bevölkerung als alle anderen Parteien – allerdings erhielt sie wegen der Wahlkreisgrenzen, die städtische Arbeiterbezirke benachteiligten, nur 8,8 Prozent der Sitze im Reichstag. Das Ergebnis der SPD erschütterte das gesamte politische Spektrum. Es war qualitativ ebenso wie auch quantitativ geradezu revolutionär: Wie Jonathan Sperber nachgewiesen hat, warb die SPD zum ersten Mal eine beträchtliche Zahl von Wählern anderer, »bürgerlicher« Parteien ab. 5 Ein Ringen um die Vorherrschaft im Reichstag hatte begonnen, das mit den Wahlen von 1912 seinen Höhepunkt erreichen sollte, in denen über ein Drittel der Deutschen der SPD ihre Stimme gaben.
    Ein beträchtlicher Block sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag wiederum stärkte massiv die Position des Zentrums, der Partei der deutschen Katholiken, deren loyale Wählerschaft in den südlichen und westlichen Regionen des Reichs in den hitzigen Auseinandersetzungen des Kulturkampfs der siebziger Jahre geschmiedet worden war. Unter den neuen Voraussetzungen, die die Wahl von 1890 geschaffen hatte, war es schwieriger als je zuvor, Gesetze durch den Reichstag zu bringen, ohne sich zuvor die Unterstützung des Zentrums zu sichern. Doch die Stimmen des Zentrums waren häufig nur auf Kosten äußerst umstrittener Zugeständnisse bezüglich katholischer Institutionen oder hinsichtlich der allgemeinen Kultur in Deutschland zu bekommen. Die Frage, wie man die Unterstützung des Zentrums gewann, ohne sich die protestantischen, »nationalen« Parteien (Konservative und Liberale) zum Feind zu machen, zählte zu den Hauptproblemen der verschiedenen Regierungen während Wilhelms Herrschaft.
    Noch beunruhigender war eine Radikalisierung des Stils und der Methoden der politischen Rechten Anfang der neunziger Jahre. Mit ihrem ausgesprochenen, ritualisierten Monarchismus (es war Brauch, Parteiversammlungen mit einem ohrenbetäubenden »Heil!« auf den Kaiser zu schließen) wurden die Konservativen als eine Art königliche »Hauspartei« angesehen. Im Dezember 1892 tat sich jedoch ein Graben zwischen den Gemäßigten und den Rechten innerhalb der Führung der Konservativen Partei auf – inzwischen die größte »Regierungspartei«. Die rechten Aktivisten forderten, dass die Partei »demagogischer« werde und »die Stimme des Volkes« aufgreife, um die Unterstützung der großen ländlichen Wählerschaft zu gewinnen. In einer hitzigen Debatte setzten die Rechten sich durch und erreichten die Aufnahme antisemitischer und antikapitalistischer Klauseln in das Parteiprogramm. Das war ein alarmierendes Zeichen dafür, dass antisemitische Agitatoren in unterentwickelten ländlichen Regionen bereits großen Einfluss gewonnen hatten. 6 Mit Blick auf eine ländliche Wählerschaft, die von Missernten, niedrigen Preisen und steigender Verschuldung schwer gebeutelt war, schloss sich die Partei mit dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte zusammen. Der Bund kanalisierte mit einem geradezu spektakulären Erfolg den Unmut auf dem Dorfe in politisches Handeln. Mit einer Mitgliedschaft von mehr als 300 000 Bauern im Jahr 1913 wurde er zum politischen Motor der Konservativen Partei, dominierte ihre Organisationen, finanzierte Pamphlete und Bücher, koordinierte Wahlkämpfe und setzte die Regierung unter Druck, eine bauernfreundliche Politik zu verfolgen. Das Resultat war ein neues Markenzeichen rechter Politik: konsequenter, radikaler, populistischer und eher zur Opposition neigend als seine Vorläufer. 7
    Mit anderen Worten, die neunziger Jahre brachten nicht nur eine Verkleinerung der parlamentarischen Unterstützung für die Regierung mit sich, sondern auch einen tieferen Wandel im Wesen und Stil der Politik. In einer klassischen Studie der wilhelminischen Parteien stellt Thomas Nipperdey die »Honoratiorenpolitik« der Bismarck-Ära der »Massenpolitik« gegenüber, die danach zur Norm wurde. Unter Bismarck wurden Parteien überwiegend von selbstrekrutierenden Mitgliedern lokaler Eliten, also Honoratioren, dominiert, die für die Kandidatur bei bestimmten Wahlen lose

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