Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)

Titel: Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Clark
Vom Netzwerk:
Erstarrung«. 48 Aber nur wenig später erlebte das Land einen dramatischen Stimmungsumschwung zugunsten des entlassenen Kanzlers. »Pilgerfahrten« zu seinem Landsitz bei Friedrichsruh kamen in Mode und es erreichte den alten Bismarck eine erstaunliche Menge an wohlwollenden Briefen. Am 1. April 1895 (seinem 80. Geburtstag) bekam er sage und schreibe 450 000 Briefe und Telegramme von Anhängern im ganzen deutschen Reich und darüber hinaus. 49 Diese außerordentlich starke Resonanz spiegelte die tiefe Zuneigung wider, die viele Deutsche für den Exkanzler und Reichsgründer empfanden, aber sie hatte, wie Werner Pöls gezeigt hat, auch einen eindeutig politischen Nachklang. 50
    Bis Mitte der neunziger Jahre etablierte Bismarck sich als der wohl lautstärkste und kompetenteste Kritiker der Regierung. Die Verbindungen und das Fachwissen, die er beim Aufbau seiner berüchtigten »geheimen Presseorganisation« erworben hatte, wurden sinnvoll genutzt. Von Friedrichsruh aus beeinflusste und zum Teil auch finanziell unterstützte Zeitungen setzten dem neuen Kaiser und seinen wichtigsten Beamten mit einem Hagel beißender, kritischer Kommentare arg zu. Bismarcks Alterssitz wurde zum Brennpunkt einer losen Koalition von Abtrünnigen. Zu diesen zählten eingefleischte Bismarck-Anhänger, aber auch weitere Personen mit den unterschiedlichsten politischen Zielrichtungen, etwa der verärgerte, ultrakonservative Graf von Waldersee und der linksliberale Journalist Maximilian Harden, der später Schlüsselfiguren in Wilhelms Entourage erheblich schaden sollte. 51 Bismarcks Agitation hatte den durchaus intendierten Effekt, dass der politische Dissens legitimiert wurde, den er selbst als Kanzler nie geduldet hatte. »Wir brauchen ein Gegengewicht«, erklärte er scheinheilig in einer Rede vom Sommer 1892, »und die freie Kritik halte ich für die monarchische Regierung für unentbehrlich.« Wie Philipp Eulenburg im Sommer 1895 beobachtete, war diese Pose Teil eines Plans, um Bismarck als »die Personifizierung des modernen Deutschland gegenüber Kaiser Wilhelm« auszugeben. »Er beschädigt ganz bewusst die Stellung des Kaisers, welche er selbst begründet hat.« 52
    Wilhelm und seine offiziellen wie auch inoffiziellen Berater waren über den »Donner aus Friedrichsruh« zutiefst beunruhigt. Sie hegten (weit hergeholte) Befürchtungen, dass Bismarck an der Spitze einer plebiszitären Bewegung nach Berlin »zurückkehren« würde. Da der Konflikt immer stärker als eine persönliche Auseinandersetzung zwischen dem Exkanzler und dem jungen Kaiser wahrgenommen wurde, hatte es den Anschein, als würde es Bismarck gelingen, die deutsche Öffentlichkeit gegen den Monarchen aufzubringen, insbesondere in den südlichen Fürstentümern, wo man der Meinung war, dass der Kanzler bei der nationalen Identitätsstiftung seit 1871 eine entscheidende Rolle gespielt hatte. 53 In hohen Regierungskreisen war man gemeinhin – und nicht ohne Grund – der Auffassung, dass Bismarck zu denjenigen zählte, die in Deutschland und im Ausland Gerüchte streuten, der Kaiser sei psychisch instabil. Möglicherweise hielt sich Bismarck gar für befugt, den Inhalt geheimer Staatsdokumente nach außen sickern zu lassen, was er im Oktober 1896 auch tatsächlich tat, als er den Text des abgelaufenen, aber hochsensiblen Rückversicherungsvertrags mit Russland in den Hamburger Nachrichten veröffentlichte. 54 Die Regierung reagierte auf diese Provokationen, indem sie über halboffizielle Organe die Behauptungen der Bismarckschen Presse dementierte; das Auswärtige Amt war so besorgt, dass es sogar versuchte, eine Zeitung aufzukaufen, an der ein Konsortium von Bismarck-Anhängern Interesse angemeldet hatte.
    Welchen Effekt die Bismarck-Kampagne auf Wilhelm persönlich hatte, kann man sich ohne weiteres ausmalen. Einige der schädlichsten öffentlichen Äußerungen des jungen Kaisers Anfang der neunziger Jahre sind darauf zurückzuführen, dass er angesichts der Gefahr aus Friedrichsruh ein Gefühl der Verletzlichkeit empfand, dass sich ein gewisser Verfolgungswahn bemerkbar machte. »Einer nur ist Herr im Reiche, und der bin ich! Keinen anderen dulde ich«, sagte er 1891 vor einer Versammlung rheinischer Industrieller, die er im Verdacht hatte, Bismarck-freundliche und arbeiterfeindliche Sympathien zu hegen. 55 Derartige Patzer waren natürlich für die Bismarcksche und oppositionelle Presse ein gefundenes Fressen. Im privaten Kreis kam es zu Ausbrüchen, in denen sich

Weitere Kostenlose Bücher