Wilhelm II.: Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (German Edition)
Schulen »nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer«. Nur mit diesen Mitteln konnten die »zentrifugalen Tendenzen«, die Wilhelm im politischen Gerüst des deutschen Reiches am Werk sah, gestoppt und rückgängig gemacht werden. 23
Wilhelms Rede rief unter vielen anwesenden Erziehern Unmut hervor und sorgte für einige Beunruhigung. 24 Das war kein Wunder: Seine Äußerungen berücksichtigten nicht im geringsten die Vorbereitungen der Organisatoren, deren Tagesordnung Wilhelm einfach mit dem Kommentar, sie erscheine zu »schematisch«, beiseite schob. Und so mancher Schulrat dürfte bei folgendem Vorschlag hinter seiner Brille erbleicht sein: »Jeder Lehrer, der gesund ist, muss turnen können; und jeden Tag soll er turnen«. 25 Auch wenn Wilhelms Vorschläge für Zuhörer mit einem persönlichen Interesse am Erhalt der bestehenden Arrangements mit Sicherheit schockierend waren, so war ihr Inhalt jedoch keineswegs neu. Darüber hinaus gab es sogar einen Präzedenzfall für eine monarchische Intervention auf diesem Feld: In einem Erlass vom 12. März 1888, der in einem erheblich milderen Ton verfasst war, hatte Wilhelms Vater Friedrich III. nationale, soziale und pädagogische Fragen auf ähnliche Weise miteinander verknüpft und festgestellt, dass den Erziehern eine maßgebliche Rolle bei der Abwehr der destabilisierenden, ideologischen Effekte eines raschen Wirtschaftswachstums und einer sozialen Polarisierung zukam. 26
Dennoch war eine so detaillierte und ambitionierte monarchische Reformkampagne wie diese in der Tat neu. Sie spiegelte nicht nur Wilhelms Bestreben, sich im Zentrum des Geschehens zu platzieren, wider, sondern auch sein Vertrauen in die einzigartige Fähigkeit und Verpflichtung des Throns, im allgemeinen Interesse liegende Verbesserungen durchzusetzen. In einer vielsagenden Passage der Bildungsrede stellte Wilhelm fest: »Ich kann das gewiss genau beurteilen, weil ich oben stehe und an mich alle solche Fragen herantreten.« 27 Wilhelm hatte natürlich eine einzigartige Stellung inne: Im Gegensatz zu den Ministern und Bürokraten musste er sich nicht an die offizielle Etikette halten und konnte jeden um Rat fragen, der ihm geeignet schien. Wie im Streit mit Bismarck um die Arbeitspolitik stützte Wilhelm sich, in der traditionellen Manier der Hohenzollern, auf den Rat schillernder Figuren wie Paul Güssfeldt, ein ehemaliger Bergsteiger und Forscher und zugleich Autor eines Werks, das mehr technische Anleitung und körperliche Ertüchtigung an deutschen Schulen forderte, oder Konrad Schottmüller, ein ehemaliger Geschichtslehrer und Direktor des deutschen Historischen Instituts in Rom, der Wilhelm zufällig bei einer Stadtführung durch Rom im Oktober 1888 begleitet hatte. Eben darin bestehe, so glaubte Wilhelm, die Überlegenheit seiner Perspektive über die vieler »Experten«, die eine besondere Autorität in Bildungs- und anderen Regierungsfragen für sich beanspruchten. Nur er konnte die Probleme von allen Seiten betrachten. Nur er verkörperte die Regierungsgewalt des Staates, gehörte aber nicht dem Staatsapparat an. Diese wahrgenommene Kluft zwischen dem universalisierenden Monarchen und den Hütern des Fachwissens belastete unweigerlich seine Beziehungen zu den Ministern, die zum großen Teil Karrierebeamte waren und vom Staat eigens zu dem Zweck angestellt wurden, die Regierungsgeschäfte zu leiten. Es blieb der Öffentlichkeit nicht verborgen, dass der Vorstoß des Kaisers in die Schulpolitik im Widerspruch zu der erklärten Agenda des langjährigen Bildungsministers Gustav von Gossler stand; damit geriet der Minister in eine peinliche Situation. Die Preußischen Jahrbücher führten dies ihren Lesern deutlich vor Augen, indem sie von Gosslers Aussagen den völlig anderen Ansichten des Kaisers in parallelen Kolumnen gegenüberstellten. Drei Monate nach der Konferenz trat Gustav von Gossler zurück.
Wilhelms Eingreifen brachte nicht die radikale Reform des preußischen und deutschen Bildungswesens, die er sich gewünscht hätte (er zeigte sich später enttäuscht über die mageren Ergebnisse der Konferenz und der zugehörigen Reformen). Aber der Deutschunterricht wurde auf Kosten von Griechisch und Latein erhöht, und es wurden mehr Stunden für die Leibeserziehung vorgesehen. 28 Langfristig trugen die Initiativen des Kaisers auch dazu bei, den Statusunterschied zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern innerhalb des Gymnasialsystems abzubauen
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