Wilhelm II.
Wilhelm II. im Juni 1888 von seinem Großvater und von seinem Vater, war es Bismarck doch gelungen, die «Persönliche Monarchie» der Hohenzollern vor den «konstitutionellen Daumenschrauben» der parlamentarischen Kontrolle zu bewahren. Wilhelm ging jedoch noch viel weiter. Nicht nur feuerte er 1890 den «Lotsen» Bismarck, um das Steuer an sich zu reißen. Im Lauf der 1890er Jahre baute er Schritt für Schritt, im stillen beraten von seinem ihm schwärmerisch ergebenen Günstling Philipp Graf zu Eulenburg, seine persönliche Macht in atemberaubender Weise aus. Dabei fehlten dem zwar vielseitig interessierten und zweifellos auch begabten, aber doch hochgradig emotionalen und ruhelosen Monarchen schlicht das Augenmaß, Besonnenheit und Klugheit, um das dynamischste und mächtigste Reich in Europa sicher zu leiten. Die Hervorkehrung seines Gottesgnadentums, sein aggressiv zur Schau getragenes Autokratentum, sein säbelrasselnder Militarismus, seine offenkundige Selbstverliebtheit und der byzantinische Servilismus, den diese Erwartungshaltung am Hof und selbst bei den obersten Staatsdienern erzeugte, wirkten wie ein Rückfall ins 18. Jahrhundert und wurden als Affront gegen das eigene Volk empfunden. Die Skandale und Krisen, die viele gleich zu Beginn seiner Herrschaft vorausgesagt hatten, ließen nicht lange auf sich warten. Ebenfalls zum Scheitern verurteilt waren Wilhelms bauernschlaue Versuche, mittels seiner Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus einerseits und der russischen Zarenfamilieandererseits seine hegemonialen Ambitionen in Europa zu verschleiern. Über den Schlachtflottenbau seit 1897, den Russisch-Japanischen Krieg 1904/05, die Erste Marokkokrise 1905/06, die Bosnische Annexion 1908/09, die Agadirkrise 1911 und die beiden Balkankriege 1912/13 führte der Weg mäandrierend in den Abgrund des Ersten Weltkriegs.
Mit seiner schmachvollen Flucht ins Exil nach Holland im November 1918 verlor Kaiser Wilhelm jedweden Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Politik. Er kämpfte erfolgreich gegen seine Auslieferung als Kriegsverbrecher an ein Tribunal der Siegermächte, das ihn, wenn nicht zum Tode, so doch zur Verbannung auf die Teufelsinsel oder die Falklands verurteilt hätte. In den 23 Jahren des Exils entwickelte der verbitterte Ex-Kaiser einen paranoiden Rassenwahn und Judenhaß, der sich durchaus mit der rabiaten Agitation der Nationalsozialisten messen kann. Er hätte sich Hitler mit fliegenden Fahnen angeschlossen, wäre dieser nur bereit gewesen, ihn wieder auf den Thron zu setzen. So bildet auch das Kapitel über die machtlosen Jahre des Kaisers im Exil ein Lehrstück zur Kontinuität in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beginnen wir aber am Anfang – mit der schicksalsschweren Geburt des künftigen Thronfolgers am 27. Januar 1859.
I. Der gepeinigte Preußenprinz (1859–1888)
Seelenmord an einem Thronerben
Die Hochzeit seiner Eltern in London 1858 galt als Talisman einer engen Beziehung zwischen Großbritannien mit seinem ozeanischen Riesenreich und dem aufstrebenden Königreich Preußen auf dem Kontinent: Die siebzehnjährige Prinzessin Victoria, Vicky genannt, war das älteste Kind Queen Victorias und des Prinzgemahls Albert aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, der Bräutigam Prinz Friedrich Wilhelm (Fritz) der einzige Sohn des 61jährigen Prinzen Wilhelm von Preußen, der seitkurzem für seinen geisteskranken und kinderlosen Bruder Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft führte. Mit der Geburt eines Sohnes am 27. Januar 1859 schienen die Hohenzollerndynastie und der Friede in Europa auf Jahrzehnte gesichert. Sinnträchtig erhielt der neugeborene Prinz von Preußen die Namen auch seiner englischen Großeltern: Friedrich Wilhelm Viktor Albert.
Die Entbindung fand im obersten Stock des Kronprinzenpalais zu Berlin Unter den Linden statt. Die Umstände bei der Geburt galten lange Zeit als ungeklärt, liegen jetzt aber dank der Dokumente im Familienarchiv offen zutage: Die Wehen der Mutter begannen am Nachmittag des 26. Januar. Der Vater, der während der Niederkunft seiner Frau nicht von ihrer Seite wich, schickte am frühen Abend mit der gewöhnlichen Post (!) einen Brief an den Frauenarzt Professor Dr. Eduard Arnold Martin, ohne ahnen zu können, daß sich das Kind in Steißlage befand – den Kopf nach oben, die Beine und Arme hochgestreckt. Erst als diese Stellung, die Lebensgefahr für Mutter und Kind bedeutete, am folgenden Morgen
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