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Wilhelm II.

Wilhelm II.

Titel: Wilhelm II. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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körperliche Behinderung einerseits und seinen künftigen «Beruf» andererseits das Recht auf Kindheit raubte, für einen empfindsamen Knaben, der tagtäglich die ärztliche Quälerei auszuhalten hatte, denkbar ungeeignet gewesen ist.
    Sehr gegen den Willen des alten Kaisers bezog Prinz Wilhelm im September 1874 mit seinem Bruder Heinrich, Hinzpeter und dem Militär-Gouverneur General von Gottberg den äußerst dürftigen «Fürstenhof» in Kassel, um in der Obersekunda am benachbarten Lyceum Fridericianum eingeschult zu werden. Von vornherein war Hinzpeters «Experiment ohne Vorgang» darauf angelegt, eine grundlegende Wandlung im Charakter seines Zöglings doch noch zu erzwingen. Durch entsagungsvolle Härte, eiserne Disziplin und schonungslose Konkurrenz sollte er zu Fleiß und Pflichterfüllung erzogen, sollten die «Standesfehler» eines Prinzen, sollte der «Zwiespalt in des Prinzen Entwicklung» überwunden werden. Von 6 Uhr früh bis 10 Uhr abends wurde gepaukt, auch samstags: 19 Wochenstunden Unterricht in Griechisch und Latein, 6 Stunden Mathematik, 3 Stunden Geschichte und Geographie, 3 Stunden Deutsch und 2 Stunden Englisch, seit 1875 kamen 2 Stunden Französisch, später auch 2 Stunden Physik hinzu, dazu natürlich der obligatorische Religionsunterricht. Das Schwergewicht lag damit eindeutig bei den alten Sprachen im Vergleich zu den Fächern, die wohl für einen modernen Monarchen angebrachter gewesen wären. Zeitlebens klagte Wilhelm über «dieses verknöcherte und geisttötende» System.
    Die übrigen Lehrer am Kasseler Gymnasium waren von den Leistungen des Prinzen ebenso enttäuscht wie Hinzpeter. Wilhelms vor kurzem erst entdeckte Deutschaufsätze aus der Unterprima wimmeln von Fehlern und sind nicht selten mit einer Fünf benotet worden; dabei war Deutsch noch sein Lieblingsfach. Keineswegs wurde Hinzpeters Ziel einer Charakteränderung erreicht. Auch in Kassel erschrak der Doktor angesichts der «Trivialität» und «Unreife» seines Zöglings, angesichts seiner «beklagenswerthen Selbstgenügsamkeit», seines «vorwitzigen und hochmüthigen Wesens» und seines Hangs zur narzißtischen Kränkung. Als er sich 1876 in den Ruhestand nach Bielefeld zurückzog und auf seine zehnjährige Tätigkeit als Erzieher des künftigen «mächtigsten Herrschers der Erde» zurückblickte, stieß Hinzpeter den «Angstruf» aus: «Ich hätte klüger sein und mich lieber in Ruhe unter einen meiner geliebten Apfel- oderPflaumenbäume zurückziehen sollen, um mich zu erhängen, statt den hoffnungslosen Kampf gegen eine solche Perversion der Natur aufzunehmen.»
    Blickt man auf die Kindheit und Jugend des Preußenprinzen zurück, so ist ein Zwiespalt nicht zu übersehen. Auf der einen Seite waren seine frühen Jahre überschattet von den schmerzlichen Versuchen der Ärzte, die erlittenen Geburtsverletzungen in den Griff zu bekommen. Die Unfähigkeit seiner stolzen Mutter, ihren Erstgeborenen mit seinen körperlichen Makeln zu lieben, ihre Bestrebungen, unter Zuhilfenahme eines strengen Erziehers die Behinderungen ihres Sohnes durch geistige Leistungen wettzumachen, der bewußte Einsatz eines ihn überfordernden Erziehungsprogramms mit dem Ziel, seine als Aufmüpfigkeit wahrgenommenen Selbstbehauptungsversuche zu beheben – all das förderte in Wilhelm, wie die Angstrufe seiner Eltern und Hinzpeters in frappierender Weise belegen, in zunehmendem Maß eine narzißtische Selbstgefälligkeit und eine schnoddrige, laut lachende Herzlosigkeit. Früh äußerte sich seine Persönlichkeitsstruktur politisch in der Glorifizierung der militärischen Errungenschaften der autokratischen Hohenzollerndynastie beziehungsweise in der Verwerfung der friedensorientierten weltbürgerlichen Ideale seiner englischen Mutter. Auf der anderen Seite aber entwickelte der Prinz, wie Hinzpeter erkannte, einen unersättlichen Heißhunger nach Liebe, Lob und Schmeichelei, nach kindischen Spielen, dummen Späßen und derben Gossenwitzen vornehmlich in Männergesellschaft. Seine Persönlichkeit war extrem labil und hochgradig emotional – es fehlten ihm «die mittleren Töne», das Augenmaß. Er konnte Widerspruch nicht ertragen, auf Enttäuschungen seiner hohen Erwartungen reagierte er gekränkt, mit aggressiven Wutanfällen oder auch mit depressiver Hilflosigkeit. Hier sehen wir bereits den psychischen Nährboden seiner Herrschaftsvorstellung eines quasiabsoluten Militärmonarchen von Gottes Gnaden, umgeben von hochgewachsenen Generälen und

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