Wilhelm II.
Georges III. in seinem Blut» und werde stets zu plötzlichen Wutanfällen neigen, die mit dem Alter an Häufigkeit und Heftigkeit zunehmen würden. Näherliegend als solche Vermutungen sind indes die Auswirkungen der Geburtsschäden und der verschiedenen Behandlungsmaßnahmen, die seine Kindheit überschatteten, auf die Charakterentwicklung des Thronerben.
Ambivalente Mutterschaft
Diese Auswirkungen werden uns nur verständlich, wenn wir die Betroffenheit der Mutter über die Geburt eines in ihren Augen «mißgebildeten» Sohnes mit einbeziehen. Die gerade erst achtzehnjährige «Engländerin» Vicky, Tochter der Queen Victoria, intelligent, belesen, fortschrittlich-liberal, leidenschaftlich anglophil, machte aus ihrer vermeintlichen Überlegenheit am rückständigen, reaktionären Preußenhof kein Hehl und war dort entsprechend unbeliebt und isoliert. Trotzig rechnete sie mit der baldigen Thronbesteigung ihres heißgeliebten soldatischen Ehemanns Fritz und dann mit einer zeitgemäßeren – parlamentarischen – Verfassung und einem Bündnis Preußens mit ihrem mächtigen Mutterland. Mit der erwarteten Geburt ihres Sohnes schienen diese schönen Hoffnungen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gesichert. Doch der kleine Prinz war «verkrüppelt» zur Welt gekommen; seine Unvollkommenheit empfand die Kronprinzessin als eine ständige, kaum zu ertragende Schmach. «Dieses Thema schmerzt mich so sehr, daß ich am liebsten unter der Erde oder in meinen Schuhen oder sonstwo wäre, wenn andere Leute darüber Bemerkungen machen», klagte sie. Der Makel mußte behoben werden – und wenn die Ärzte mit ihren Mitteln versagten, dann mußte die körperliche Behinderung eben durch Bildung kompensiert werden. Mit der Gesetzmäßigkeit einer griechischen Tragödie entwickelte sich aus diesen unerfüllbaren Erwartungen ein Teufelskreis wechselseitiger Enttäuschungen, die bei Wilhelm schon nach wenigen Jahren in Haß und Ablehnung der freiheitlichen Ideale der Mutter ausarten sollten.
Von Anfang an fand Vicky wenig Gefallen an ihrem Erstgeborenen. Es ist beklemmend zu sehen, wie ihr der Kummer über seine Gebrechen das junge Mutterglück verleidete. Noch Jahre später erinnerte sie sich, wie sie sich während seiner Taufe geschämt hat, weil ihr Sohn «halb zugedeckt werden mußte, um seinen Arm, der nutzlos und kraftlos an seiner Seite herunterhing, zu verstecken». Besonders schmerzhaft war es für sie, Wilhelm zusammen mit gesunden Knaben zu beobachten. «Wenn ich sehe, wie andere Kinder in ihre Hände klatschen, und dannsehe, wie sein armer kleiner Arm lahm und völlig nutzlos an seiner Seite herunterhängt, dann ist mein Kummer sehr groß.» «Der Gedanke, daß er ein Krüppel bleibt, verfolgt mich», schrieb sie kurz vor Wilhelms zehntem Geburtstag.
Die Frustration, die der kleine Wilhelm wegen der Behinderung und der qualvollen Therapien empfand, äußerte sich bald in «gewalttätigen und leidenschaftlichen Wutanfällen», die wiederum abstoßend auf die Mutter wirkten. «Der arme Willie wird von all diesen Maschinen und Geräten derart gequält, daß er ärgerlich und schwer zu bändigen wird, das arme Kind wird wirklich sehr schwer geprüft», stellte sie 1863 fest. Nicht weniger bedenklich in ihren Augen war der Hochmut, den ihr Sohn – auch dies wohl kompensatorisch – zunehmend an den Tag legte und den sie vergebens zu «korrigieren» suchte. «Der Junge ist wirklich so impertinent u. trotzig, daß ich mitunter nicht weiß was ich mit ihm anfangen soll – u. es wird mir so schwer mich selbst zu beherrschen wenn er mich so ärgert. […] Ich drohe immer mit der Ruthe, ich werde sie auch wirklich einmal anwenden …» Auch geistig blieb der kleine Prinz weit hinter den Erwartungen seiner Mutter zurück. «Er hat ein fabelhaftes Gedächtnis, ich finde ihn aber sonst nicht sehr geistig entwickelt, […] er schwätzt darauf los, um sich zu hören, vollständig ohne irgend etwas zu denken», bemängelte sie, als Wilhelm fünf Jahre alt war.
Die Enttäuschung seiner Mutter konnte dem Prinzen nicht verborgen geblieben sein. Nachhaltiger als die Androhung der Rute waren die verbalen Schläge, die ihm die Kronprinzessin versetzte. Wie sie selbst später eingestand, habe sie Wilhelm, «als er noch Kind war u. oft so selbstgefällig sprach u. that u. renommirte», «immer» zu ihm gesagt, «um ihn zu necken, Dich nimmt Keine mit dem schwarzen Finger etc… – worauf er gewöhnlich mit Hohn antwortete». Wie tief der
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