Wilhelm II.
Zeichnung (siehe oben) von dem Gerät an und jammerte, wie furchtbar es sei, «das eigene Kind als ein mißgebildetes behandelt zu sehen». Auch diese Maßnahme, deren psychische Folgen man erahnen mag, erwies sich als nutzlos; eine Operation wurde erforderlich. Am 23. März 1865 schnitt Langenbeck den sogenannten «Kopfnicker» – die Sehne zwischen dem Halsmuskel und dem Schlüsselbein – durch. Wenige Tage darauf wurde ein zweiter Muskel durchtrennt, der das Kinn zur Seite zog und so das Gesicht entstellte: Das rechte Auge und die rechte Wange waren im Verhältniszu groß geraten, der Mund schief und das linke Auge halb zugekniffen.
Da Wilhelm den steif nach vorn gebeugten linken Vorderarm überhaupt nicht bewegen konnte, schien 1868 eine Durchtrennung auch der Bizeps-Sehne angebracht, doch schließlich sah man von dieser Operation ab, weil die Versteifung offenbar von einer Knochenmißbildung im Ellbogengelenk herrührte. Statt einer Operation wurde die «Armstreckungsmaschine», die der Prinz seit der frühesten Kindheit ertragen mußte, noch intensiver angelegt, und zwar zweimal täglich, auch während des Unterrichts. Von einer Verwendung der Maschine nachts wurde nur deshalb abgesehen, weil man epileptische Anfälle befürchtete. Unter Anwendung der «Armstreckungsmaschine» und eines «Fixierungsgestells» konnte seit 1866 unter Anleitung des Hauptmanns Gustav von Dresky dreimal täglich Heilgymnastik angewendet werden, die sich für die Entwicklung des gelähmten Arms als nützlich erwies.
Als wäre diese (natürlich gutgemeinte) Peinigung für den zarten Prinzen nicht schon genug, so stellten sich im Lauf der Jahre weitere körperliche Mißlichkeiten heraus, die die Ärzte ebenfalls auf die schwierige Geburt beziehungsweise auf die Behandlung der Geburtsverletzungen zurückführten: Eine Gleichgewichtsstörung zeitigte in den Jugendjahren mehrmals Knieverrenkungen, durch die Wilhelm bisweilen genötigt war, wochenlang das Zimmer zu hüten. Seit dem Herbst 1878 litt er jahrelang an einer lebensgefährlichen Erkrankung des rechten inneren Ohres mit polypösen Wucherungen und übelriechenden Eiterungen. Als die Ohrerkrankung 1886 in alarmierendem Grade mit Schwindel und Innenohrgeräuschen wiederkehrte, verschrieben die Ärzte einen zehnwöchigen Kuraufenthalt in Bad Reichenhall. Im Oktober jenes Jahres entzündete sich auch noch das bisher gesunde linke Ohr – das Trommelfell mußte perforiert werden. Befürchtungen, wonach es sich bei den Wucherungen um Krebs handelte, erwiesen sich zwar als unbegründet, doch in den folgenden Jahren verstummten die Gerüchte nicht, daß das auffallende Verhalten Wilhelms auf sein Ohrenleiden zurückzuführen sei. Im August 1896 wurde eineRadikaloperation zur Entfernung des Trommelfells des rechten Ohres unumgänglich, weil eine Gehirnentzündung zu befürchten war. Doch auch nach der Operation litt der Kaiser zeitlebens an chronischem Mittelohrkatarrh, dem er täglich mittels eines selbstgebastelten Wattestäbchens zu Leibe rückte.
All diese Leiden und deren Behandlung sind durch Quellen genauestens belegt. Spekulativ bleiben dagegen andere Erklärungen, die von den Zeitgenossen oder Biographen zur Erläuterung der Auffälligkeiten im Verhalten Wilhelms II. angeführt worden sind: Ob er bei der Geburt einen – geringgradigen – Hirnschaden erlitten hat, wofür das entstellte Gesicht sprechen könnte, muß offenbleiben. Über seine sexuelle Veranlagung und eine eventuelle Unterdrückung homosexueller Neigungen werden wir noch im Zusammenhang mit seiner Ehe und seinen Freundschaften hören. Bedenkenswert, wenn auch bislang nicht schlüssig belegt, sind Indizien, die auf eine Erbkrankheit hindeuten, die seit den Tagen der Stuarts in den Königshäusern von Hannover und Großbritannien grassierte und die bei König George III., Wilhelms Ururgroßvater, zu gelegentlichen Wutausbrüchen und zeitweiliger Umnachtung geführt hatte, nämlich die Porphyrie. Daß diese dominant vererbbare «königliche Krankheit» mit der Heirat des Kronprinzenpaares von Windsor aus in das Haus Hohenzollern übergesprungen war, ist neuerdings einwandfrei durch DNA-Analysen bewiesen worden, die das Vorhandensein der Mutation bei Wilhelms ältester Schwester Charlotte und deren Tochter bestätigten. Ob Wilhelm selbst betroffen war, muß noch offenbleiben. Erwiesen ist, daß führende Ärzte und Staatsmänner in London schon früh zu der Überzeugung gelangten, der Prinz trage «den Makel
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