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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Schlimmste befürchten ließ.
    Aber diesmal kam es ganz anders. Nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt und anschließender Rehabilitation in Südfrankreich präsentierte sich Willy Brandt im Frühjahr 1979 einer erstaunten Öffentlichkeit fast wie einem Jungbrunnen entstiegen. Der inzwischen fünfundsechzig Jahre alte Genussmensch wirkte nicht nur körperlich fit, sondern auch psychisch ausgeglichener denn je und war fest entschlossen, sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Dass er sich zuerst angesichts einer seit längerem kriselnden Ehe von der allseits beliebten Rut trennte, nahm man ihm in meinen Kreisen allerdings übel.
    An seiner Seite zeigte sich nun immer öfter eine zweiunddreißigjährige Genossin, die Historikerin, Publizistin und vormalige Chefredakteurin der «Berliner Stimme», Brigitte Seebacher, für die ich zu Beginn der Siebziger Artikel über den damals aufmüpfigen SPD-Bezirk Hessen-Süd geschrieben hatte – eine politisch versierte wie persönlich höchst eigenwillige Frau. Sie stand von Anfang an im Verdacht, den kontaktscheuen Vorsitzenden kühl kalkuliert zu vereinnahmen und seiner Partei zu entfremden.
    Zunächst stärkte sie wohl eher seine Widerstandskraft. So verlässlich der Altkanzler bis dahin bereit gewesen war, seinen Nachfolger zunächst sogar noch nach dem von diesem initiierten und in der SPD heftig umstrittenen Nato-Doppelbeschluss zu stützen, so sehr verschlechterte sich jetzt ihr Verhältnis. Aus der Rückschau betrachtet, war das auch meine schwierigste Zeit mit Brandt. Sein aufreizend «kräftiges Sowohl-als-auch», mit dem er sich gegen alle Erscheinungsformen eitel überzogener Selbstgewissheit wandte, machte mir insbesondere in der Schlussphase des zweiten sozialliberalen Kabinetts zu schaffen. «Willy Wolke», wie man ihn da bisweilen verhöhnte, schien zu präzisen Auskünften kaum noch bereit. Wollte er seine SPD nun so lange wie irgend möglich an der Macht halten – oder überwog die Angst, sie könne im Schlepptau eines «Raketenkanzlers» in zwei irreversibel miteinander verfeindete Lager zerfallen? Solche Überlegungen, wich der Vorsitzende in den letzten Wochen des Bündnisses aus, seien angesichts der Haltung der FDP, die jede sich bietende Chance zum Absprung nutzen werde, «fast schon obsolet».
    Dass er sein Interesse an der Koalition und ihren Projekten verloren hatte, ließ sich nie konkret belegen, doch die Indizien sprachen dafür. Binnen weniger Monate distanzierte sich Brandt nach dem Ende Schmidts von den meisten bedeutsamen Richtungsentscheidungen, die sich mit dem Namen seines Kollegen verbanden, um dem «Ex» im November 1983 sein Waterloo zu bescheren. Auf einem SPD-Konvent in Köln, der das Nachrüstungskonzept begrub, standen von den mehr als vierhundert Delegierten nur noch vierzehn hinter dem Beschluss. Für den stolzen Hanseaten ein Desaster, aber der Parteichef winkte ab. «Na und?», frohlockte er nach dem Votum. Es war das kürzeste Interview, das ich je mit ihm führte.
    Willy Brandt wirkte gelöst, und das sicherlich nicht bloß deshalb, weil er sich in einer hochbrisanten Sachfrage durchgesetzt hatte. Mit dem von der FDP erzwungenen Abgang des Kanzlers und Herbert Wehners leisem Verschwinden ins Private war er jetzt der letzte «Troikaner» und genoss das politische Überleben. «Links und frei», so schon der Titel seiner 1982 veröffentlichten Retrospektive auf die jungen Jahre, übernahm er unangefochtener denn je in der SPD das Zepter. Er wolle ihr «Feuer unter dem Hintern machen», diktierte er mir Mitte der Achtziger einmal in den Block, «aber sie auch obenherum wärmen.»
    Der Vorsitzende in der Pose des Präzeptors und Patriarchen: «Über den Tag hinaus denken» hieß nun seine Devise, unter der er nach Konstellationen für eine wieder mehrheitsfähige Sozialdemokratie Ausschau hielt. Die Partei brauchte einen neuen Partner, und wer anders konnte dafür in Frage kommen als die 1980 aus der Taufe gehobenen, von Helmut Schmidt als «Blumenkinder» verschmähten «Grünen»? Sosehr es ihm missfiel, dass die auf ihrem «eigenen Laden» bestanden hatten, so unbeirrbar vertraute er seinem Gespür für künftige Entwicklungen.
    Doch der größere Teil des SPD-Establishments mochte Brandt nicht folgen, und nach der Niederlage der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 1987 blieb er als Parteichef nur noch wenige Wochen im Amt. Kritische Stimmen, die besonders laut wurden, als er die parteilose Politologin Margarita Mathiopoulos

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