Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Interview auch prompt daneben. Anstelle der vorher vereinbarten Tour d’Horizon befasste sich der Kanzler derart akribisch mit dem von der Opposition befehdeten Atomwaffensperrvertrag, dass mir am Ende die Zeit davonlief. Genau genommen war es ein Selbstgespräch, in dem er ein über das andere Mal ins Stocken geriet. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er eine Schachtel mit Streichhölzern aus der Jackentasche hervorkramt, die er seltsam in sich gekehrt zu Figuren zusammenlegt.
Aber solche häufig als «Entrückung» beschriebenen Abwesenheiten verunsicherten mich nur am Anfang. Je öfter ich den Regierungschef und SPD-Vorsitzenden traf, desto mehr gewöhnte ich mich daran, ihm bei der manchmal behäbigen Verfertigung seiner Gedanken gleichsam über die Schulter schauen zu dürfen, zumal dann ja auch die Erträge nicht ausblieben. Einen «Kollegen», wie er mich als ehemaliger Korrespondent gelegentlich etwas kokett titulierte, mit irgendwelchen belanglosen Statements abzuspeisen, kam ihm nie in den Sinn.
In meiner Rückschau auf Willy Brandt, den ich bis in sein Todesjahr hinein in den unterschiedlichsten Situationen erlebte, hat sich mir dieses Bild am stärksten eingeprägt: Es zeigt den leicht verlegen wirkenden Kanzler, der mich mit einem leise hingemurmelten «Na, wie geht’s» empfängt und mir dabei den Arm so steif entgegenstreckt, als wolle er sich seinen Besucher bereits bei der Begrüßung vom Leibe halten – zugleich aber auch einen wohltuend höflichen Menschen.
Traf man ihn außerhalb seines Büros, etwa bei längeren Überseeflügen oder nach strapaziösen Wahlkampftagen im Speisewagen eines Sonderzuges, konnte er durchaus aufblühen. Da gab er am laufenden Band erstaunlich harmlose Witze zum Besten und schmeichelte, wenn die Gläser häufig genug gefüllt worden waren, sogar seiner journalistischen Entourage. Ich erinnere mich noch gerne daran, wie er einmal zu ziemlich später Stunde, als an der Bar der von ihm geliebte Portwein ausgegangen war und ich eine in weiser Voraussicht in der Aktentasche deponierte letzte Flasche hervorzauberte, zu meinen «Ehren» ein damals populäres Chanson anstimmte. Das stammte von der «Schwabinger Gisela» und endete mit dem Refrain «… aber der Nowak lässt mich nicht verkommen».
Doch daraus zu schließen, ich hätte zu ihm, dem seit seinem Warschauer Kniefall vor allem im Ausland hochgeachteten Friedensnobelpreisträger und «guten Deutschen», einen besonderen Draht gehabt, wäre sicher überzogen. Mehr als einem den Eindruck zu vermitteln, man sei in seiner Umgebung gelitten – und dieses Empfinden ab und zu durch kleine, ermutigende Gesten zu bekräftigen –, war von ihm kaum zu erwarten.
Darum ging es mir im Übrigen auch gar nicht. Als eher untypischer «Achtundsechziger», der sich an den seinerzeit misstrauisch beäugten Leitbildern weniger rieb als das Gros seiner strikt antiautoritären Altersgenossen, sah ich in Brandt zuallererst eine Vaterfigur, und das blieb lange so. Zwar endete bei mir mit seinem Abgang als Kanzler die Phase der Schwärmerei, aber bei vielen der dann aufbrechenden innerparteilichen Kontroversen stand ich ihm deutlich näher als seinem technokratisch-pragmatischen Nachfolger Helmut Schmidt.
Natürlich gab es im Laufe seiner Karriere Schwächeperioden, die mir schwer begreiflich erschienen. Dazu gehörte in erster Linie die in meinen Augen haarsträubend laxe Art, in der er seinen grandiosen Wahlsieg vom Herbst 1972 verspielte und sich selbst vor egozentrischen Fluglotsen und Gewerkschaftsbossen wehleidig verkroch. So bänglich hatte ich mir mein Idol, das schließlich auch noch von seinem Zuchtmeister Herbert Wehner dem öffentlichen Spott preisgegeben wurde, nicht vorgestellt – und geradezu wütend machte es mich, als er einer eher läppischen Spionageaffäre wegen im Mai 1974 die Brocken ganz hinschmiss.
Aber schon sechs Wochen nach seinem Rücktritt verrauchte mein Zorn. Auf einer gemeinsamen Fahrt in sozialdemokratische Parteibezirke, die er nun als Vorsitzender inspizierte, begegnete ich wieder dem von mir gemochten, einem bei aller vermeintlichen Verschlossenheit eindrucksvoll zugänglichen Willy Brandt. Ob er über die wahren Motive seiner Demission reden möge, tastete ich mich vorsichtig voran, und der Exkanzler hob bedauernd die Schultern: Soweit sich die unmittelbar auf ihn und sein Verhalten bezögen, sei er sich leider «selbst ein Rätsel».
Zu solchen Sätzen, wie ich sie in seiner Zunft nur
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