Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
zur Vorstandssprecherin zu ernennen gedachte, beförderten seinen Entschluss.
Und ich lernte ihn nach seinem Ausstieg in einer bis dahin so nie erlebten Verfassung kennen. In einer Mischung aus Enttäuschung und Wut zog er mit ungewöhnlich harschen Sätzen über die «geistige Enge» einiger seiner Genossen her, um sich dann allerdings rasch wieder zu fangen und energisch zur Ordnung zu rufen: In den paar Jahren, die ihm vielleicht noch bevorstünden, knurrte er grimmig, «bloß nicht verbittern!».
Aber das gelang ihm vermutlich nur in Maßen. Seine Rechte als Ehrenvorsitzender nahm er kaum noch in Anspruch, sondern verschanzte sich, sofern er nicht mit Hingabe die globalen Kontakte pflegte, in seinem schlichten Büro am Bonner Tulpenfeld – und je näher die Wende von 1989 heranrückte, desto mehr entpuppte er sich bei aller Internationalität als aufgeklärter deutscher Patriot, was er im Grunde seines Herzens wohl immer war. Glücklicher als an einem Nachmittag Ende Januar 1990 im historischen Tivoli zu Gotha, wo sich anno 1875 Ferdinand Lassalle und August Bebel die Hand zur Gründung einer «Sozialistischen Arbeiterpartei» gereicht hatten, sah ich ihn jedenfalls zu keiner Zeit mehr.
Im März 1992 dann unser letztes Gespräch. Der nach einer Darmkrebsoperation bereits schwer gezeichnete Willy Brandt bot mir ein «Zusammensein im Rahmen des Möglichen» an – nun tatsächlich die beim ersten Treffen abgebrochene Tour d’Horizon, die er zu meinem Erstaunen auf nahezu fünf Stunden ausdehnte. Von seiner Einschätzung der Lage der SPD über jene Deutschlands und der Welt bis hin zu eher privaten Fragen sparte er dabei nur wenige Themen aus und legte selber noch nach. «Letzte Wahrheiten», sagte er zwischen zwei längeren Pausen, seien ihm zwar suspekt, aber «Urteile über Personen und Sachen» – und manches, was auch er so getrieben habe – halte er schon für erlaubt.
«War doch abgemacht», unterbrach er sich einmal lachend, «dass ich das nicht mehr lesen muss … oder?»
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1.
«Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern» Kindheit und Jugend in Lübeck
Gegen Ende der fünfziger Jahre gehört der Sozialdemokrat Willy Brandt zu den am meisten beachteten Politikern der Bonner Republik. Seit er 1957 zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin gewählt wurde und die USA seine eindrucksvolle Standhaftigkeit auf diesem Vorposten der freien Welt rühmen, ist er zum Shootingstar seiner Partei aufgestiegen. Kaum jemand zweifelt daran, dass sie ihn für die nächste Bundestagswahl im September 1961 als Spitzenkandidat nominieren wird.
Dass er dem greisen Kanzler Konrad Adenauer auf Anhieb wirklich die Macht entreißen und der SPD zum lange ersehnten Durchbruch verhelfen könnte, hält das Gros der Deutschen allerdings für wenig wahrscheinlich – und im Übrigen auch gar nicht für wünschenswert. Immerhin haftet dem einstigen Emigranten der Ruch des Vaterlandsverräters an, und die Tatsache, dass er unehelich geboren wurde, gilt in der noch überwiegend konservativ-bigotten Nachkriegsgesellschaft als moralischer Makel. Einem solchen Mann das wichtigste öffentliche Amt anzuvertrauen, ist für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung unvorstellbar.
Um den Bedenkenträgern den Wind aus den Segeln zu nehmen, entschließt sich der ehemalige Korrespondent zu einer Art Vorwärtsverteidigung. Er engagiert einen Ghostwriter, der sich unter dem Pseudonym Leo Lania schon in den Jahren der Weimarer Republik als investigativer Journalist und Romancier einige Meriten erworben hat, und diktiert ihm im Herbst 1960 seinen «Lebensbericht».
Was seine Wurzeln betrifft, bleibt jedoch auch dieser in manchen Passagen etwas schwülstige Text ziemlich vage. Über der frühen Kindheit, bedauert der abwechselnd in der ersten und dritten Person Singular erzählende Willy Brandt, hänge leider ein dichter Schleier. «Wie Strandgut auf den Wellen der nordischen See», so gibt er zu Protokoll, zeigten sich in seiner Erinnerung an jene Zeit «schemenhaft Gestalten und Gesichter», die dann allerdings gleich zerflössen und vor seinen Augen verschwänden. Dass der am 18. Dezember 1913 in Lübeck unter dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm zur Welt gekommene Knabe «ich selber war», falle ihm «schwer zu glauben».
Über seine Eltern erfahren die Leser nur wenig. Die bei seiner Geburt neunzehnjährige Mutter Martha bezeichnet der Autor nicht ohne Respekt als «tüchtige kleine Verkäuferin im
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